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Works John Cassian (360-435) Sieben Bücher über die Menschwerdung Christi (BKV)
Zweites Buch

6. Daß die Macht, göttliche Gnade zu verleihen, Christo nicht mit der Folge der Zeit zugegangen, sondern ihm von Anfang an sei angeboren gewesen.

Aber vielleicht möchtest du sagen, daß diese Gnade unsers Herrn Jesus Christus, von welcher der Apostel schreibt, nicht mit ihm geboren, sondern ihm nachher durch Herabkunft der Gottheit eingegossen worden sei; da ja auch unser Herr Jesus Christus, den du einen bloßen Menschen nennst, nicht mit Gott geboren wurde, wie du sagst, sondern nachher von Gott aufgenommen ward, und also hiedurch jenem Menschen die Gnade gegeben wurde, als er die Gottheit S. 465 erhielt. Auch wir sagen nicht anders, als daß die göttliche Gnade zugleich mit der Gottheit herabgestiegen sei, weil die göttliche Gnade eben von Gott ist und gewissermaßen die Freigebigkeit der Gottheit ist, ihre Schenkung aber gnädige Wohlthätigkeit. Man könnte also etwa glauben, es sei unter uns mehr ein Unterschied in der Zeit als in der Sache, weil du die Gottheit, von welcher wir sagen, daß sie mit dem Herrn Jesu Christi geboren wurde, eine nachher eingegossene nennst; aber die Sache ist die, daß du die bei der Geburt geläugnete Gottheit auch nachher nimmer gläubig bekennen kannst; weil nicht eine und dieselbe Sache zum Theile gottlos sein und zum andern Teile als göttlich sich bewähren kann und nicht Ebendasselbe Theil haben kann am Glauben und am Unglauben.1 Zuerst will ich nun Das von dir wissen: Nennst du unsern Herrn Jesus Christus, der aus der Jungfrau Maria geboren wurde, nur den Sohn eines Menschen oder auch den Sohn Gottes? Denn wir, also der Glaube aller Katholiken, wir alle, sage ich, glauben Beides und verstehen es so, wissen und bekennen: daß er sowohl der Sohn eines Menschen ist, weil er aus einem Menschen geboren wurde, als auch der Sohn Gottes, weil von der Gottheit empfangen. Gestehst du nun zu, daß er Beides ist, sowohl Sohn Gottes als des Menschen, oder nur des Menschen? Wenn nur des Menschen, so rufen wider dich die Apostel, es rufen die Propheten, ja Derjenige selbst, durch welchen die Empfängniß geschah, der hl. Geist. Erdrückt wird deine unverschämte Zunge durch alle Zeugnisse der höchsten göttlichen Autoritäten, erdrückt durch die hl. Bücher, die heiligen Zeugen, erdrückt endlich durch das Evangelium Gottes selbst, wie durch göttliche Hand. Und jener große Gabriel, der des Zacharias ungläubige Stimme durch die Macht seines Wortes in Fesseln legte, er hat noch viel mehr deine S. 466 gotteslästerliche und ruchlose mit eigenem Munde verurtheilt, da er zu Maria, der jungfräulichen Gottesmutter, sprach: „Der hl. Geist wird auf dich herabkommen, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten. Deßhalb wird auch das Heilige, welches aus dir geboren werden wird, Sohn Gottes genannt werden.“ Siehst du, wie Jesus Christus zuvor Sohn Gottes genannt wird, damit er dann Sohn würde dem menschlichen Fleische nach? Denn die Jungfrau Maria, die den Herrn gebären sollte, ermpfieng dadurch, daß der heilige Geist auf sie herabstieg und die Kraft des Allerhöchsten sie überschattete. Damit siehst du ein, daß der Ursprung unseres Herrn und Erlösers dort ist, woher er empfangen wurde, und daß, da er durch Herabkunft der ganzen Fülle der Gottheit auf die Jungfrau geboren wurde, er nicht Sohn des Menschen sein konnte, wenn er nicht zuvor Sohn Gottes gewesen wäre. Deßhalb legt auch der Engel Gottes, der zur Verkündung dieser so heilig bereiteten Geburt gesandt war, nachdem er zuvor von der geheimnißvollen Empfängniß gesprochen hatte, auch dem Sprößling selbst den Namen bei, indem er sagt: „Deßhalb wird auch das Heilige, das aus dir wird geboren werden, Sohn Gottes genannt werden“ (d. h. er wird der Sohn Desjenigen genannt werden, durch dessen Zeugung er entsproßte). Jesus Christus ist also der Sohn Gottes, weil er von der Gottheit gezeugt, durch die Gottheit empfangen wurde. Wenn aber Sohn Gottes, so ist er ohne Zweifel Gott; wenn aber Gott, so ist er nicht ohne die Gnade Gottes; denn er entbehrte nie, was er selbst geschaffen hat. „Die Gnade“ nämlich „und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“


  1. Hier ist Cassian wohl durch zu große Spitzfindigkeit unklar geworden. ↩

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