15.
In einigen Ausgaben, besonders in griechischen Handschriften, finden sich gegen Ende des Markusevangeliums die Worte: „Nachher, als die elf zu Tische saßen, erschien ihnen Jesus und tadelte ihren Unglauben sowie ihre Herzenshärte, weil sie denen nicht geglaubt, die ihn nach der Auferstehung gesehen hatten“1. Und sie gaben ihm Recht mit den Worten: „Diese Welt der Bosheit und des Unglaubens steht unter der Gewalt des Teufels, welche mit Hilfe der unreinen Geister nicht zuläßt, daß Gottes wahre Kraft erfaßt werde. Darum offenbare bereits jetzt Deine Gerechtigkeit!“2 Wenn ihr diesem Worte widersprechet, dann werdet ihr S. 430 sicherlich folgenden Ausspruch nicht ablehnen: „Die Welt liegt im Argen“3, und ihr werdet nicht zu leugnen wagen, daß der Satan sich unterfangen hat, seinen Herrn zu versuchen, daß er sich besiegt und bestürzt zurückzog bis zur Zeit des Leidens. Während Jesus versucht wird, erkühnt sich Jovinians Nachfolger zu behaupten: „Jene, die mit vollem Glauben die Taufe empfangen haben, können nicht versucht werden“4. Mit anderen Worten: „Der Mensch kann nach der Taufe überhaupt nicht mehr sündigen, wofern er nicht will“. — Zu dem gerechten Zacharias spricht der Engel: „Weil du meinen Worten nicht geglaubt hast, wirst du stumm sein und nicht sprechen können bis zum Tage seiner Geburt“5. — Der Vater des Mondsüchtigen spricht von den Aposteln: „Ich habe deine Jünger gebeten, daß sie ihn (den Dämon) austreiben möchten, aber sie haben es nicht gekonnt“6. Und die Jünger fragen den Erlöser: „Warum konnten wir ihn nicht austreiben?“ Und sie erhalten zur Antwort: „Wegen eures Unglaubens“7. Warum? frage ich. Weil alles zu können dem Herrn vorbehalten war. — Die Apostel beschäftigten sich mit dem Gedanken, wer von ihnen der größte wäre; aber sie wurden durch des Herrn Lehre, welcher den geringsten als den größten anerkannte und so der Demut gegen den Stolz zu ihrem Rechte verhalf, zurechtgewiesen8. — Die Bewohner einer Stadt Samarias verweigern Jesus die Aufnahme, weil sein Antlitz nach Jerusalem gewandt war. Jakobus S. 431 und Johannes offenbarten sich als wahre Donnersöhne, und glühend vor Feuereifer wie Phinees und Elias wünschen sie, daß Feuer vom Himmel falle; aber sie werden vom Herrn getadelt. Sicherlich wäre ihnen der Tadel erspart geblieben, wenn ihr Wunsch frei von jeglichem Fehl gewesen wäre9. — Mit dem Herrn zogen Volksscharen. Er wandte sich gegen sie und sprach: „Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht Vater und Mutter, Gattin und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein eigenes Leben, dann kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Schüler sein“10. Und angesichts solcher Stellen sollte ich verwegen ausrufen: „Der Mensch kann, wenn er will, alle Sünden meiden; denn Gottes Gebote sind leicht“? Zu ihnen sprach der Erlöser: „Ihr behauptet wohl vor den Menschen, ihr seiet gerecht. Gott aber kennt eure Herzen; denn was angesehen ist bei den Menschen, ist ein Greuel vor Gott“11. „Es ist unmöglich“, sagt Christus ferner, „daß keine Ärgernisse vorkommen“12. Ich glaube, daß die Sünde ein Ärgernis ist, daß sie auch durch Ärgernis entsteht. Wenn ich mich nicht irre, leiten die Ausdrücke σκῶλον [skōlon] und σκάνδαλον [skandalon]13 bei den Griechen ihren Namen von Anstoß und Sturz her. Darum stoßen wir alle in vielen Dingen an14. Wenn ich auch nicht gefallen bin, so habe ich sicherlich schon angestoßen, und nicht nur einmal, sondern häufiger. Ich halte es aber für Sünde, in irgendeiner Sache Anstoß erregt zu haben. — Die Apostel wandten sich an den Herrn mit den Worten: „Vermehre in uns den Glauben!“ Er antwortete S. 432 ihnen: „Wenn ihr den Glauben hättet wie ein Senfkörnlein15, welches doch das kleinste unter allen Samenkörnern ist“16 — und mein Critobulus bläht sich vor uns auf mit seinen Bergen des Glaubens.
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Mark. 16, 14. ↩
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Dieses Zitat ist ein Teil des berühmten Freer-Logions, eines Einschubes zwischen Mark. 16, 14 und 16, 15, das zum ersten Male in einer von Freer i. J. 1907 zu Kairo gekauften Bibelhandschrift griechisch aufgefunden wurde. Der Kodex stammt nach einer von M. H. A. Sanders, Professor an der Universität Michigan, angestellten Untersuchung aus dem Ende des vierten oder dem Anfange des fünften Jahrhunderts. Vgl. C. R. Gregory, Das Freer-Logion, Leipzig 1908, 25 ff. und E. Jacquier, Le manuscrit Washington des évangiles (Revue biblique. Nouvelle série X [1913], 547 ff.] — Auch Hieronymus weiß, daß die Stelle nicht allgemein anerkannt wurde, wie seine Worte: „Cui si contradicitis“ bezeugen. — Vallarsi-Migne lesen: „Saeculum istud iniquitatis et incredulitatis substantia est, quae non sinit . . . .“ Eine vatikanische Handschrift hat allerdings statt „substantia est“ die Worte „sub satana est“, fährt aber auch fort mit quae (MXXIII, 550 Anm. i). Der griechische Text zeigt, daß nur die Fassung „sub satana est, qui“ als richtig in Frage kommen kann. ↩
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1 Joh. 5, 19. ↩
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Ad Jovinianum I, 3. ↩
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Luk. 1, 20. ↩
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Luk. 9, 40. ↩
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Matth. 17, 18 f. ↩
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Luk. 9, 46—48. ↩
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Luk. 9, 52―55. ↩
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Luk. 14, 26 f. ↩
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Luk. 16, 15. Dieses Wort spricht der Erlöser zu den Pharisäern, während Hieronymus mehr ein allgemeingültiges Zitat daraus macht. Darum auch das unvermittelte: Qui merentur audire a Domino Salvatore. ↩
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Luk. 17, 1. ↩
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σκῶολον [skōlon] (nur in der LXX) bedeutet Anstoß, Hindernis; σκάνδαλον [skandalon] (nur in der LXX und im Neuen Testament) Anstoß, Ärgernis. ↩
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Jak. 3, 2. ↩
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Matth. 17, 19. ↩
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Matth. 13, 32; Mark. 4, 31. ↩