Erster Artikel. Der Wille ist der Sitz der heiligen Liebe.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die heilige Liebe ist eben Liebe. Diese aber hat ihren Sitz in der Begehrkraft, der concupiscibilis, und nicht im Willen. II. Die heilige Liebe ist die hauptsächlichste aller Tugenden. Also ist ihr Sitz das hervorragendste Vermögen, die Vernunft. III. Die Liebe erstreckt sich auf alle menschliche Thätigkeit, nach 1. Kor. ult. 14. Also ist ihr Sitz in der freien Urteilskraft, dem Princip der menschlichen Thätigkeiten. Auf der anderen Seite ist der Gegenstand der heiligen Liebe das Gute, nämlich der gleiche Gegenstand wie für den Willen. Also ist die heilige Liebe im Willen.
b) Ich antworte; da das Begehren ein doppeltes ist: ein sinnliches und ein vernünftiges, so ist auch das Gute unter verschiedenem Gesichtspunkte Gegenstand für jede Art des Begehrens. Denn das Gute, soweit es der Sinn auffaßt, ist Gegenstand für das sinnliche Begehren; und das Gute, soweit es die Vernunft auffaßt, ist Gegenstand für das geistig vernünftige Begehren. Der Gegenstand der heiligen Liebe aber ist kein vom Sinne aufgefaßtes Gut; sondern das göttliche Gut, was nur die Vernunft erfaßt. Also kann der Sitz der heiligen Liebe nur das vernünftige Begehren oder der Wille sein.
c) I. Die Begehrlraft ist ein Vermögen im sinnlichen Teile; also nicht Sitz der heiligen Liebe. II. Der Wille ist gewissermaßen in der Vernunft, nach 3. de anima. Wenn also die heilige Liebe im Willen ist, so wird sie nicht der Vernunft entfremdet. Die heilige Liebe hat jedoch ihre Regel und Richtschnur nicht in der menschlichen Vernunft, sondern in der göttlichen Weisheit, welche die Vernunft überragt; nach Ephes. 3., wo die Rede ist von „der überaus hervorragenden Wissenschaft der Liebe Christi.“ Die Liebe also ist nicht in der Vernunft wie in ihrem Sitze und auch nicht wie in ihrer Richtschnur, etwa gleich der Klugheit oder der Mäßigkeit; sondern weil der Wille verwandt ist mit der Vernunft. III. Die freie Willenskraft ist das nämliche Vermögen wie der Wille. Jedoch ist unter diesem Gesichtspunkte die Liebe nicht im Willen; inwieweit dieser freie Willenskraft hat. Denn die freie Auswahl betrifft das Zweckdienliche; der Wille aber berücksichtigt den Zweck. Da nun die Liebe den letzten Endzweck anbelangt, so ist sie mehr im Willen als solchem als in der freien Urteilskraft.