Rede über den Text: „der Sünder werde hinweggenommen, damit er Gottes Herrlichkeit nicht schaue!“ (Js. 26,10.)
Vorbemerkung
S. 93 Der syrische Text ist der Handschrift Cod. vat. 117, sect. 89 entnommen und in der römischen Ausgabe im II. syrisch-lateinischen Bande S. 344-350 abgedruckt. Die Autorschaft Ephräms ist noch durch den Cod. Musei Britannici Addit. 14 615 [10.-11. Jahrh.] und Cod. vat. 155, sect. 27 [16. Jahrh.] belegt, allerdings späte und daher nicht einwandfreie Zeugnisse.
Inhalt: Nach einer kurzen Vorbemerkung über das richtige Lesen der Hl. Schrift legt der Verfasser den erschütternden Sinn der gewählten Bibelstelle aus. Der Sünder, der sich nicht bekehrt, hat nichts anderes zu erwarten als die Hölle [1]; darum Aufforderung zur Traurigkeit nach dem Beispiel der Heiligen und unseres Herrn selbst [2]. Darstellung des Unglücks der Seele infolge der Sünde und der Liebe Gottes zu den Seelen [3]. Dann wird eifrige Sorge für die durch die Sünde getötete Seele empfohlen, sowie Trauer über ihren Verlust [4 u. 5]. Dringende Ermahnung zum Wiederaufbau der Seele, für die Christus starb, und deren Wert unermeßlich ist [6 u. 7]. Das Ganze ist nachdrückliche Zurede, die Seele zu retten. Im letzten Abschnitt wird dann noch vom Nutzen einer frommen Seele für andere Seelen und von den Wundern durch Reliquien hl. Märtyrer gehandelt [8]. [Nach Zingerle a. a. O. I,385.]
Der letzte Abschnitt [8] enthält einen Gedanken, bei dem wir noch etwas verweilen müssen. Dort bezeichnet nämlich der Redner die Gebeine der hl. Märtyrer als lebend und Leben spendend, als Schutzmauern gegen Räuber und Plünderer. „Siehe doch, welch’ ein Leben in den Gebeinen der Märtyrer! Wer sollte meinen, daß sie nicht leben? Siehe, wie ihre Grabstätten leben; wer kann daran zweifeln? Sie sind feste Burgen, die vor den Räubern erretten; ummauerte Städte, die vor den Plünderern schützen; hohe und starke Türme für den, der zu ihnen seine Zuflucht nimmt; denn sie S. 94 retten aus den Händen der Mörder, und der Tod wagt es nicht, sich ihm zu nähern.“
Damit vergleiche man die Strophen 19-21 des 13. Carmen Nisibenum des hl. Ephräm. In diesen schreibt er die Errettung der Stadt Nisibis aus den Belagerungen der Perser in den Jahren 346 und 350 dem Umstände zu, daß sie das Grab ihres Bischofs, des hl. Jakobus [297- 338], in sich barg und damit ein unvergleichliches Palladium besaß. Er ermahnt daher die Nachbarstädte, ebenfalls ein solches Palladium in ihre Mauern aufzunehmen. „Kluge Töchter Nisibis, ahmt Nisibis nach, das in seinem Innern einen Leichnam beisetzte, damit er ihm nach außen zur Mauer sei. Setzet ebenso einen lebenden Leichnam bei euch bei, damit er euch zur Mauer für euer Leben sei“ 1.
Dieser lebende Leichnam findet seine Erklärung in 8 unserer Rede, wonach die toten Gebeine der Heiligen 2 Leben haben und spenden.
Aus dieser Gedankenverwandtschaft kann man nun allerdings noch nicht schließen, daß die Rede von Ephräm sein muß; aber der ephrämische Ursprung wird dadurch wahrscheinlicher.