21.
Schon war der größte Teil des Tages vorübergegangen und die Sonne neigte sich dem Untergang zu. Ihre Freudigkeit aber ließ nicht nach, sondern je näher es dem Ende zuging, um so mehr schien sie die Schönheit des Bräutigams zu schauen und mit um so heftigerem Begehr drängte sie zum Ersehnten, indem sie ihre schwach werdende Rede nicht mehr an uns, die Anwesenden, sondern an eben jenen, auf den sie unverwandt mit den Augen schaute, richtete. Gegen Osten war nämlich ihr niedriges Lager gekehrt und, nachdem sie aufgehört hatte, nach unserer Weise zu reden, verkehrte sie von nun ab im Gebete mit Gott, mit den Händen flehend und mit leiser Stimme lispelnd, so daß wir ihre Worte nur schwer vernahmen; solcher Art war das Gebet, das unzweifelhaft an Gott gerichtet war und von ihr her vernommen wurde: „Du, o Herr,“ sprach sie, „hast uns die Furcht vor dem Tod genommen. Du hast uns das Ende des Erdenlebens dahier zum Anfang des wahren Lebens gemacht. Du läßt unsere Leiber eine Zeitlang im Schlafe ruhen und erweckst sie daraus wieder mit der letzten Posaune. Du übergibst unsere Erde, die du mit deinen Händen geformt hast, der Erde zur Aufbewahrung und holst dann wieder zurück, was du gegeben, nachdem du das Sterbliche und Unschöne von uns zu Unsterblichkeit und Herrlichkeit umgewandelt hast. Du hast uns vom Fluch und von der Sünde errettet, indem du beides für uns geworden bist1. Du hast die Köpfe des Drachen zerquetscht2, der mit seinem Rachen den Menschen in S. 357 den Abgrund des Ungehorsams hinabgerissen hatte. Du hast uns den Weg der Auferstehung bereitet, da du die Pforten der Hölle zerbrochen3 und den, der die Macht über den Tod hatte, überwunden hast4. Du hast denen, die dich fürchten, als Zeichen5 das Abbild deines heiligen Kreuzes gegeben zur Überwindung des Widersachers und zur Sicherheit unseres Lebens. O ewiger Gott, dem ich vom Mutterleibe an zugeteilt gewesen6, den meine Seele aus allen Kräften geliebt hat7, dem ich Leib und Seele von Kindheit an bis jetzt geweiht habe, stelle du mir einen lichten Engel zur Seite, der mich geleite an den Ort der Erquickung, wo das Wasser der Ruhe ist, in den Schoß der heiligen Väter, der du das flammende Schwert8 zerbrochen und den mit dir gekreuzigten Menschen, der dein Erbarmen anflehte, dem Paradies wiedergegeben hast. Gedenke auch meiner in deinem Reiche9! Denn auch ich bin mit dir gekreuzigt, da ich aus Furcht vor dir mein Fleisch angenagelt habe und vor deinen Gerichten mich fürchte10. Möge der schreckliche Abgrund mich nicht von deinen Auserwählten trennen, noch der Verleumder mir in den Weg treten, noch mögen vor deinen Augen meine Sünden erfunden werden und, wenn ich aus Schwachheit unserer Natur etwas gefehlt und in Wort oder Werk oder Gedanke gesündigt habe, so verzeihe es mir, der du auf Erden die Macht hast, Sünden zu vergeben, damit ich die Erquickung erhalte und, wenn ich meinen Leib ablege, vor dir erfunden werde, an der Gestalt meiner Seele ohne Makel zu sein; ja möge meine Seele untadelig und makellos in deine Hände aufgenommen werden wie liebliches Opferwerk vor dir11!“ Während sie so sprach, machte sie zugleich S. 358 auf die Augen, den Mund und das Herz das Kreuz. Und allmählich konnte ihre im Fieber ganz ausgetrocknete Zunge kein Wort mehr hervorbringen, die Stimme versagte, und wir erkannten nur mehr am Öffnen der Lippen und an der Bewegung der Hände, daß sie mit Gebet beschäftigt war.
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Vgl. Gal. 3, 13 u. 2 Kor. 5, 21. ↩
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Vgl. Ps. 73, 13 [hebr. Ps. 74, 13]. ↩
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Vgl. Ps. 106, 16 [hebr. Ps. 107, 16]. ↩
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Vgl. Hebr. 2, 14. ↩
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Vgl. Ps. 59, 6 [hebr. Ps. 60, 6]. ↩
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Vgl. Ps. 21, 11 [hebr. Ps. 22, 11]. ↩
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Vgl. Deut. 6, 5. ↩
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Vgl. Gen. 3, 24. ↩
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Vgl. Luk. 23, 42. ↩
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Vgl. Ps. 118, 120 [hebr. Ps. 119, 120]. ↩
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Vgl. Ps. 140, 2 [hebr. Ps. 141, 2]. Makrinas letztes Gebet verrät neben seinem biblischen Gehalt mannigfache Anklänge an die altkirchlichen Sterbegebete. ↩