1.
Nach der Melodie 1: Gericht der Völker.
1. S. 1 Der Irrtum bei den Abtrünnigen ist die Quelle von Wunden; aber die Liebe, die Arzt sein will in schweren Leiden 2, verursacht Schmerzen nicht aus böser Lust, bereitet Qual, aber nicht aus Wut, denn kein Arzt ist, der aus Haß schneidet. Und obgleich seine Liebe wohlwollend ist, ist doch sein Eisen furchtbar und grausam; gütig ist er durch Hilfe und bitter in seinen Arzneien 3.
Kehrvers: Gepriesen sei, der bloßlegte die Ränke der Linken 4!
2. S. 2 Der Neidische 5 wütet heftig und verletzt die Menschen; sein Gift macht ihn rasend, und er beißt, wen er nur trifft. Wut trägt er in seinem Herzen und Fluch in seinem Munde; sein Ursprung und seine Wurzel sind Gift; mit seiner Blüte täuscht er dich, denn die Frucht, die er dir reicht, stammt von Sodom her, ein Erzeugnis seines Trachtens.
3. Unheil und Fülle sinnt er zu jeder Zeit, denn sein Kopf ist voll Übermut; von Streitlust aufgestachelt, legt er seine Schlinge, die verlockend einen Zufluchtsort vortäuscht. Eine Wolke ist sein düsterer Geist, indem er den Tod ausschüttet bei heiterem, wolkenlosem Himmel; sein Speicher ist des Hagels voll, den er stets bereithält.
4. Ränkevoll und düster im Innern, heiter und freundlich nach außen, scherzt er und umgarnt er dich; er zeigt sich harmlos und schmettert dich nieder. Ganz scheint er dir zugetan zu sein, und doch ist er ganz dein Gegner. Immerdar ist er Anstifter jeglichen Streites; lächelnd betrügt er dich, küssend beißt er dich, kosend erwürgt er dich – so treibt er es vom Anfang bis zum Ende mit dir.
5. Wie oft lagert der Löwe friedlich in der Wüste draußen und birgt die Schlange sich im Hause drinnen, ohne zu schaden, der Neidische aber fügt unaufhörlich drinnen und draußen Übel zu. Und sogar der Fleischkoloß 6 im Morgenlande neigt seine Höhe willig vor dem Menschen – das Reittier in friedlicher Ruhe, sein Reiter voller Stolz.
6. Wenn du eine Schlange siehst, brauchst du nicht sehr zu erschrecken; und wenn dir ein Geist [Dämon] begegnet, verachte ihn und weiche ihm nicht S. 3 aus; wenn dir aber der Neidische entgegenkommt bezeichne dich [mit dem Kreuzzeichen] und fliehe! Wenn dir der Scheelsüchtige nachstellt, bleibe nicht stehen, geh hinweg und lies im [Buche] Job; in seinen Leiden erkenne dich selbst, denn Tod strömt er aus, und Verderben haucht er dir zu.
7. Wenn eine Frau dich liebt, teilst Josephs Schicksal du; wenn eine Frau dich haßt, ist dein Geschick das des Elias; und wenn dein Bruder dich verfolgt, verschaff dir Jakobs Flügel; Abel gibt dir einen Vorgeschmack [Vorbild]; wenn du den Neider ganz begreifen willst, betrachte unsern Herrn und überlege, wie er ohne Schuld gekreuzigt ward!
8. Nicht als ein Neidischer, der sein Schwert stets gezückt hält und mit Blut den Durst seiner Gesinnung löscht, zieht der Arzt sein Eisen heraus zur Rettung; Liebe ist sein Operieren [Wundenschneiden] zur Heilung, so daß die Geheilten, wenn sie gesund geworden sind – wofern sie nicht Tadel verdienen wollen, daß sie gegen ihn undankbar sind –, ihm Freude bereiten 7, da sie durch seine Anordnungen geheilt wurden 8. –
9. Wie neidisch war doch der Böse auf den Leib des Bardaisan 9! Mit seinem eigenen Munde schnitt er sich seine Hoffnung ab. Die Hälfte seines Selbst beschimpfte er, seiner Zunge ließ er freien Lauf S. 4 und leugnete seine Auferstehung. Dem Markion 10 raubte er die Vernunft, verblendete ihn, und [so] erhob er sich gegen seinen Schöpfer, lästerte seinen Urheber; mit Mani 11 wie mit seinem Gewande bekleidete er sich und sprach durch ihn.
10. Er gab dem Bardaisan einen Speicher voll Unkraut; er unterdrückte und erstickte den Weizen durch seine Dornen und Unkräuter; in eine Garbe band er ihn zusammen mit dem Unkraut. Wölfe gab er als Apostel dem Markion; das Schafskleid stahl er, um sie nach außen zu verhüllen. Durch Mani wühlt er wie durch Schweine immerdar seinen Kot empor.
11. Bardaisans Rede ist in der Öffentlichkeit zwar ehrsam, im Verborgenen aber wird sie zum Gegenteil, zum Urbild der Gotteslästerung; ein Weib ist er, das heimlich hurt im Schlafgemach. Markion ist eine Buhlerin, die sich schamlos aufführt. Mani, der so oft den Speichel des Drachens aufleckte, speit das Bittere für seine Anhänger [wieder] aus und das Scharfe für seine Schüler.
12. Mit Prachtgewändern und Edelsteinen schmückt er den Bardaisan 12; den Markion umhüllt er mit dem Bußgewand, damit er die Söhne des Lichtes verdüstere. Den Mani taucht er in bleiche Farbe 13, um damit zu täuschen. So bewaffnet er einen jeden von ihnen mit jeglicher Schlechtigkeit: den Markion S. 5 mit der Lästerung, mit Täuschung den Bardaisan; die Hefe, die noch reichlich übriggeblieben, goß er aus über Mani.
13. Und es begannen die Kinder der Schlange auf Erden einherzuschleichen, um die Schlichtheit irre zu führen und die Jugend zu verlocken, dem Haupte ihres Geschlechtes gleichend, der Schlange der Urzeit. Sie sah Eva 14 im Paradiese in ihrer Unschuld; sie schmeichelte ihr, und Eva vertraute; sie redete ihr zu, und Eva fand Wohlgefallen; sie überraschte sie, und Eva hatte es zu bereuen; sie biß sie, und Eva versank in Traurigkeit.
14. Das Zucken der Glieder 15, das Wahrsagen der Zeiten, ein Buch, das Donnerbuch 16, ein anderes, das Buch der Geheimnisse 17, ein anderes, das Buch der [Geister-] Scharen 18, dem gegenüber das der Tierkreiszeichen, – und während nach dem Geiste der Kirche das Schäflein in den Büchern des Heiligen betrachtet, studieren jene in den Büchern des Verderbens.
15. Wer gesund ist am Leibe, den machen sie am Geiste krank; wer krank ist, den behandeln sie, daß er [geistig] stirbt, wenn er gesundet. Wer gebrochen ist, den verbinden sie, damit er in ihre Schlinge falle. S. 6 Wenn sie über ein Kind, das gebissen wurde, ihre Beschwörungen murmeln, hat der Skorpion äußerlich geschadet, die Beschwörung aber schadet innerlich. Zwischen einem doppelten Tode bewegt sich der Tor hin und her.
16. Jezabel überredete den Achab, und sein Ring versiegelte den Brief für seine [Naboths] Verurteilung. Die Irrlehre ließ den Bardaisan durch seine Zunge die Urkunde seiner Anklage schreiben. Markion legte selbst Hand an die Urkunde seiner Verfehlungen; und Mani hat in seinen Lehrschriften niedergelegt, daß er die Freiheit seinesgleichen verkauft hat.
17. In den Grotten Bardaisans [ertönten] Gesänge und Lieder; da er sah, wie die Jugend nach Ergötzlichkeiten sich sehnt, behexte er durch das Bedürfnis 19 seiner Gesänge die Jugend. Markion fastete wie eine Schlange; immer mehr warf er die Worte der Schlange unter seine Zuhörer. Mani öffnete seinen Mund und spülte ihn aus in Versprechungen.
18. Gar bald hat man Bardaisans Zelle zerstört, denn nicht las er in ihr die Propheten, die Söhne der Wahrheit, sondern in den Büchern des Tierkreises, studierte dort und erklärte sie. Gegen Markion, der den Schöpfer verleugnete, erhob sich die Schöpfung, unstät irrte er auf ihr; dem Mani, der brüllte, haben die Kinder des Morgenlandes die Haut abgezogen 20.
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Nach der Melodie, deren Angabe die römische Edition durchwegs unterlassen hat, bilden die ersten 10 Hymnen eine äußerlich zusammenhängende Gruppe, da sie sämtlich nach der Melodie: „Gericht der Völker“ gesungen werden sollen. Jede Strophe hat, abgesehen von dem aus 2 Fünfsilbern bestehenden Kehrvers 11 Verse von je 5 Silben, nur der 7. Vers hat 7 Silben. Für genau denselben Strophenbau werden bisweilen auch andere Modell-Melodien angegeben; so z. B. Nr. 2 der Nisibenischen Gedichte [1. Ephrämband S. 256]: „Tröstet durch Verheißungen“, oder auch einfach die Anweisung gegeben, nach der Melodie der „Paradies“-Hymnen zu singen, deren 7. Hymnus mit diesen Worten beginnt. Über den Bau des vorliegenden Hymnus s. Th. J. Lamy, Sancti Ephraemi Syri hymni et sermones. IV Mechlinae 1902, 491 [Ergänzungen zum 3. Bd. XII] und H. Grimme, der Strophenbau in den Gedichten Ephraems des Syrers, Freiburg [Schweiz] 1893, 59 ff. ↩
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Der Anfang der 1. Strophe ist in der römischen Ausgabe vom Herausgeber frei ersonnen, da die Hs an dieser Stelle stark verwischt ist. In seiner Bibliotheca orientalis I. 118 [Rom 1729] gibt J. S. Assemani darum als Anfang des Hymnus den der 2. Strophe an; im Katalog der syrischen Hss der Vatikana III, 78 [Rom 1759] ist bereits die freie Ergänzung der Herausgeber als Anfang genannt. ↩
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Wortspiel: basîm = gütig, besma Arznei. ↩
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Die Linke = Seite der Verworfenheit. ↩
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Der „Neidische“ kann auch Bezeichnung für den Teufel sein; diese zwischen zwei Bedeutungen schwankende Benennung scheint mit Absicht gewählt zu sein. ↩
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Wörtlich: „Turm von Fleisch“; gemeint ist der Elefant. ↩
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Durch Lohn, Belohnung, sich erkenntlich zeigen. ↩
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Hier bricht die Übersetzung Zingerles in der 1. Auflage der Bibl. der Kirchenväter [2. Ephräm-Band S. 230] ab; da das übrige des Gesanges nichts Interessantes biete, glaubte er füglich hier abbrechen zu können, um die Leser nicht zu ermüden. ↩
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Die Stellen über Bardaisan, die sich in unseren Hymnen und bei anderen Schriftstellern finden, hat F. Nau in der Patrologia Syriaca II [Paris 1907], 506 ff. zusammengestellt. Über Leben und Lehre des B. vgl. die Arbeiten von F. Haase, Zur Bardesanischen Gnosis, Leipzig 1910; Neue B.-Studien [Oriens Christianus, N. S. 12/14 [1922/24]], 129 ff.; Altchristliche Kirchengeschichte nach orientalischen Quellen, Leipzig 1925, 327 ff.; F. C. Burkitt in: S. Ephraims Prose Refutations II, p. CXXII ss. ↩
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Über Markion vgl. A. v. Harnack, Marcion 2 Leipzig 1924, und Neue Studien zu M. Leipzig 1923; ferner F. Haase in der ebengenannten Altchristlichen Kirchengeschichte 350 ff.; F. C. Burkitt a. a. O., p. CXVII ss. ↩
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Wortspiel: Mani und mana, Gewand, Gefäß. Über Mani vgl. F. Haase, Altchristliche Kirchengeschichte 359 ff. A. v. Le Coq, Die buddhistische Spätantike in Mittelasien. II. Teil, Die manichäischen Miniaturen, Berlin 1923. F. C. Burkitt, The Religion of the Manichees, Cambridge 1925. O. G. Wesendonk, Die Lehre des Mani, Leipzig 1922. K. Keßler, Mani I, Berlin 1889. ↩
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Anspielung auf die bevorzugte Stellung, die B. am edessenischen Königshofe innehatte. ↩
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Wohl wegen der weißen Ritualgewänder der Electi; vgl. die Bilder in dem obengenannten Werke von A. v. Le Coq. ↩
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Wortspiel: hevja Schlange und hava Eva. ↩
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Zucken der Glieder, wonach geweissagt wurde; vgl. H. Diels, Beiträge zur Zuckungsliteratur des Okzidents und Orients [Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften 1907/8]. Ein Buch der Zuckungen wird genannt im 35. Kanon des Jacob v. Edessa, s. C. Kaiser, Die Canones Jacobs von Edessa, Leipzig 1886, 23 und 127 ff. ↩
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Den Gebrauch des „Donnerbuches“ verbietet der ebengenannte Kanon des Jacob von Edessa. ↩
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Ein „Buch der Geheimnisse“ wird dem Mani zugeschrieben; vgl. K. Keßler, Mani I, 191. ↩
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Die römische Hs hat: „ein Buch der [Geister-] Scharen stellen sie dem der Tierkreiszeichen gegenüber.“ In jedem Falle ist nach dem Metrum „tûlqē“, nicht „tûlāqē“ zu lesen. Vor einem „Buch der [Geister-]Scharen“ warnt Isaak v. Antiochien [ed. P. Bedjan, Paris – Leipzig 1903, 106, 7]; vgl. dazu Th. Nöldeke: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 28 [1874] 664. ↩
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Add. 12176 hat hier sûnqān, Bedürfnis vielleicht auch „Scherz“ nach einer Note des Lexikographen Bar ‚´Ali], Add. 14574 liest qûnqān, die römische Hs dagegen qûnsān, das J. S. Assemani, Bibliotheca Orientalis I 119 mit concentus carminum, also „Harmonie der Gesänge“ wiedergibt. ↩
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naštû[h]i, so lesen beide Hss; die römische Ausgabe liest naqtû[h]î. Daß Mani geschunden wurde, sagt Ephräm auch in der 2. Abhandlung an Hypatius [J. J. Overbeck, S. Ephraemi Syri … opera selecta [Oxonii 1865] 67, 26; übersetzt von K. Kessler, Mani I 283 f. und C. W. Mitchell, S. Ephraims Prose Refutations I [London 1912] XXXVI]. ↩