IV.
In dem Gesagten will Paulus die Korinther aneifern zu gegenseitiger Fürbitte und zur fleissigen Danksagung auch für die Wohlthaten, die Andere von Gott empfangen. Daran hat Gott ein großes Wohlgefallen. Denn wer gerne für Andere betet und dankt, der thut es um so lieber für sich selbst. Und ausserdem lehrt er sie S. 36 mit diesen Worten demüthigen Sinn und warme Liebe zum Nebenmenschen. Denn wenn Paulus selbst, so hoch erhaben, von sich sagt, er verdanke ihren Gebeten sein Leben, es sei ihm durch ihre Fürbitte dieses Gnadengeschenk von Gott gewährt worden, wie demüthig und bescheiden mußten erst die Korinther von sich denken! Aber auch Das darfst du mir nicht übersehen, daß das Gebet seine große Bedeutung behält, auch wenn Gott Etwas aus Erbarmen thut. Denn im Eingange hat Paulus seine Erhaltung den Erbarmungen Gottes zugeschrieben und gesagt: „Der Gott der Erbarmungen hat uns gerettet,“ hier aber auch den Gebeten. So sehen wir es auch an jenem Knechte, der die zehntausend Talente schuldig war. Zuerst fiel er dem Herrn zu Füßen, dann erbarmte sich der Herr. Gleichwohl heißt es: „Aus Erbarmen ließ er ihn los.“1 Und das chananäische Weib mußte zuvor lange und inständig bitten, bis sie die Heilung ihrer Tochter erlangte, aber doch blieb die Heilung ein Werk der Erbarmung. Was lernen wir nun daraus? Wenn es auch im Rathschlusse Gottes liegt, uns Erbarmen zu erweisen, so müssen wir uns doch der Gnade erst würdig machen. Erbarmung bleibt sie, aber sie sucht würdige Herzen; denn nicht ohne Unterschied tritt sie an Alle heran, auch an Die, welche sich nicht darum kümmern. Denn „ich erbarme mich,“ spricht der Herr, „wessen ich will, und bin gnädig, gegen Die es mir gefällt.“2 Sehen wir nun auch hier, wie Paulus eben Das sagen will mit den Worten: „Da auch ihr mithalfet in eurem Gebete für uns,“ hat Gott uns gerettet. Er schreibt ihnen weder Alles zu, um sie nicht stolz zu machen, noch spricht er ihnen Alles ab, um ihren Eifer und ihr festes Zusammenhalten zu stärken. Darum sagt er auch. „Euch (zusammen) hat Gott als Gnadengeschenk meine Rettung gewährt.“ Denn auch auf die Zahl pflegt Gott zu achten, wenn nämlich Viele zusammen mit einem S. 37 Herzen und einem Munde beten. So sprach einst der Herr zum Propheten: „Ich soll nicht schonen dieser Stadt, in welcher zwölf Myriaden Menschen sind?“3 Doch ist es wieder nicht die Menge allein, auf welche Gott schaut. Denn „wäre die Zahl der Söhne Israels wie der Sand am Meere, nur ein Rest wird gerettet werden.“4 Warum nun aber die Schonung der Bewohner Ninive’s? Weil sie nicht bloß zahlreich, sondern auch bußfertig waren. Denn „es that ein Jeder Buße von seinem bösen Wege.“ Und auch bei Ankündigung ihrer Schonung sprach der Herr: „Sie wissen nicht rechts und nicht links.“ So hatten denn offenbar auch ihre früheren Versündigungen mehr im Unverstande als in der Bosheit ihren Grund. Das geht schon daraus hervor, daß sie auf wenige Worte hin sich bekehrten. Hätten die zwölf Myriaden allein vermocht, sie zu retten, was wäre dann vor der Buße ihrer Erhaltung im Wege gestanden? Aber warum sagt dann Gott nicht zu Jonas: Ich soll nicht schonen einer Stadt, die solche Buße thut? Was haben denn die Myriaden zu schaffen? Sie dienen nur zur vollständigen Zurechtweisung des Propheten. Denn diesem war wohl die Buße der Bewohner, nicht aber ihre Zahl und ihre Unwissenheit bekannt. So sucht demnach der Apostel auf alle Weise die Gläubigen für die Tugend zu gewinnen; denn dann macht auch die Menge Etwas aus, wenn sie tugendhaft ist.
Das lehrt uns die Schrift auch an einer anderen Stelle, wenn sie sagt: „Gebet aber wurde inständig verrichtet von der Kirche zu Gott für ihn.“5 Und die Frucht dieses Gebetes? Petrus lag im Gefängnisse; die Thüren waren geschlossen, Ketten an seinem Leibe, rechts und links schlief ein Wächter; aber aus all Diesem hat Gott den Apostel herausgeführt. Ja, eine tugendsame Menge vermag viel, aber eine sündhafte Nichts. So waren die S. 38 Söhne Israels nach dem Ausdrucke der Schrift zahllos wie der Sand am Meere, aber sie sind alle umgekommen; und Noes Zeitgenossen, eine unzählige Menge; aber was half es ihnen? Denn die Menge an sich vermag Nichts, wenn nicht zur Menge noch Etwas hinzukommt.
So vereinigen wir uns denn zu fleissigen Gebeten und Fürbitten für einander, wie es für die Apostel die ersten Christen gethan haben. Dadurch erfüllen wir ein göttliches Gebot und mehren die Liebe; wenn ich aber die Liebe nenne, so meine ich den Inbegriff aller Güter. Und lernen wir Gott eifriger danken! Denn wer für fremde Gnaden Dank sagt, der thut es um so mehr für die eigenen. Dieses that auch David, wenn er auffordert: „Machet groß mit mir den Herrn und laßt uns erhöhen seinen Namen allzumal!“6 Dieses verlangt überall der Apostel, Dieses wollen denn auch wir thun und vor Allen Gottes Wohlthaten verkünden, damit Alle an unsere Lobpreisung sich anschließen. Denn wenn wir schon die Menschen, von denen wir Gutes empfangen, durch öffentliches Verkünden ihrer Güte zu neuen Wohlthaten geneigter machen, so werden wir um so mehr Gott den Herrn zu neuen Gnaden bewegen, wenn wir laut seine Gaben preisen. Und wenn wir bei Menschen, die uns Liebes erwiesen, auch Andere zur Theilnahme an der Danksagung ermuntern, so sollen wir um so mehr vor Gottes Angesicht Viele führen, damit sie Dank sagen für uns. Wenn schon Paulus Dieses thut, der doch selbst so beten und danken konnte, wie weit nothwendiger ist es dann für uns!