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Die Art der Liebe nun hat der Apostel gezeigt, die der Furcht aber nicht mehr. Beachte wohl! S. 423 Während er die Beschaffenheit der Liebe mit Ausführlichkeit behandelt, indem er sie durch vergleichenden Hinweis auf Christus und das eigene Fleisch erklärt und den Satz aufstellt: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen“, verbreitet er sich über die Beschaffenheit der Furcht nicht weiter. Warum denn wohl? Weil er will, daß jene, die Liebe nämlich, vorherrsche. Ist Liebe vorhanden, so ergibt sich alles andere von selbst; wenn aber Furcht, dann durchaus nicht. Wer nämlich sein Weib liebt, wird, wenn sie auch nicht besonders folgsam ist, dennoch alles ertragen; schwerlich und mißlich dagegen sieht es mit der Eintracht aus, wenn die Ehegatten nicht in alles bezwingender Liebe miteinander verbunden sind; die Furcht kann das auf keinen Fall zustande bringen. Deshalb verweilt der Apostel länger bei dem, was die Hauptsache ist. Gerade das, wodurch die Frau im Nachteil zu sein scheint, nämlich das Gebot der Furcht, gereicht ihr zum Vorteil; denn für den Mann besteht das weit wichtigere Gebot der Liebe. - Wie nun, höre ich fragen, wenn aber das Weib den Mann nicht fürchtet? - So liebe du sie, erfülle du deine Pflicht! Denn wenn auch andere ihre Schuldigkeit nicht tun, so müssen doch wir die unsrige tun. Der Apostel verlangt z. B.: „Seid einander untertan in der Furcht Christi!“ Was nun, wenn der andere sich nicht unterordnen will? So gehorche du dem göttlichen Gebote! Gerade so verhält es sich auch hier. Wird also die Frau auch nicht geliebt, so fürchte sie dennoch den Mann, damit nichts durch ihre Schuld geschehe; der Mann aber, wenn auch die Frau ihn nicht fürchtet, liebe sie trotzdem, damit er es seinerseits an nichts fehlen lasse; denn jeder Teil hat seine eigene Verpflichtung überkommen. Eine so entstandene Ehe ist nach dem Beispiele Christi, ist eine geistige Ehe und eine geistige Zeugung. Unsere Zeugung soll nicht aus dem Geblüte, nicht aus Geburtswehen, nicht aus dem Willen des Fleisches erfolgen. Solcherart war die S. 424 Zeugung Christi, nicht aus dem Geblüte, nicht aus den Geburtswehen. Solcherart war auch die Zeugung Isaaks. Höre was die Schrift sagt: „Und es hatte aufgehört, der Sara zu ergehen nach der Weiber Art“1 .
Eine solche Ehe gründet sich nicht auf sinnliche Leidenschaft und körperliche Vereinigung, sondern ist ganz geistig, indem die Seele mit Gott eine geheimnisvolle Verbindung eingeht, die nur er allein kennt. Deswegen sagt der Apostel: „Wer dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm.“ - Beachte, wie sorgfältig der Apostel die innige leibliche und geistige Vereinigung in der Ehe betont! Wo sind nun die Irrgläubigen? Wenn die Ehe etwas Verwerfliches wäre, so hätte der Apostel nicht von Braut und Bräutigam gesprochen, so hätte er seiner Aufforderung nicht die Worte beigefügt: „Der Mann wird Vater und Mutter verlassen“, so hätte er nicht weiter hinzugesetzt, sein Ausspruch sei in Hinblick auf Christus und auf die Kirche zu verstehen. Von dieser singt auch der Psalmist: „Höre, Tochter, und schaue, neig dein Ohr und vergiß dein Volk und das Haus deines Vaters: so wird der König nach deiner Schönheit verlangen“2 . Deshalb sagte auch Christus: „Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen“3 . - Wenn ich aber sage, daß er den Vater verlassen habe, so darfst du nicht an eine Ortsveränderung denken gleichwie bei den Menschen. Wie nämlich das Ausgehen nicht ein eigentliches Sichentfernen bedeutet, sondern die Menschwerdung, so auch der Ausdruck, er habe den Vater verlassen.
Warum hat nun der Apostel nicht auch vom Weibe gesagt, sie werde ihrem Manne anhängen? Warum wohl? Weil er von der Liebe sprach und weil er zu dem Manne sprach. Zum Weibe nämlich redet er von der Furcht, indem er sagt: „Der Mann ist das Haupt des Weibes“; und wiederum: „Christus ist das Haupt der Kirche“; von der Liebe dagegen redet er zum S. 425 Manne, ihm legt er dieselbe dringend ans Herz, an ihn richtet er seine Ausführungen über die Liebe, um ihn fest an die Frau zu ketten und aufs innigste mit ihr zu verbinden. Denn wer Vater [und Mutter] um des Weibes willen verließ. wie sollte der Verzeihung finden, wenn er eben dieses Weib wieder verließe und aufgäbe? Siehst du nicht, wie hoch die Frau nach Gottes Willen von dir geachtet werden soll, da er dich von deinem leiblichen Vater getrennt hat, um dich ihr zuzuführen? - Aber was dann, wendet man ein, wenn wir das Unsrige tun, die Frau aber uns nicht folgt? - „Will aber der Ungläubige sich scheiden, so scheide er sich; denn nicht gebunden ist der Bruder oder die Schwester in solchem Falle“4 . -
Wenn du aber von Furcht reden hörst, so verlange eine Furcht, wie sie sich einer Freien ziemt, nicht wie von einer Sklavin; denn sie ist dein Leib. Tust du letzteres, so beschimpfst du dich selbst, indem du deinen eigenen Leib mißachtest. - Worin besteht denn nun die Furcht? Darin, daß du nicht widersprichst, dich nicht auflehnst, nicht nach dem Vorrang trachtest. Bis hierher erstreckt sich die Furcht. Wenn du aber liebst, so wirst du noch mehr tun; besser gesagt, du wirst das nicht mehr bloß aus Furcht tun, sondern auch die Liebe wird dein Tun bestimmen. Dein Geschlecht ist das schwächere und bedarf sehr des Beistandes und der Nachsicht. - Was aber vermöchten jene zu sagen, die eine zweite Ehe schließen? Ich will sie nicht verurteilen, da sei Gott vor; hat doch selbst der Apostel dies gestattet; sondern will mich auch zu ihnen herablassen: Leiste ihr alles, tue und leide für sie alles! Das obliegt dir als zwingende Pflicht. - In diesem Punkte hält es der Apostel nicht für angemessen, durch anderweitige Beispiele seinem Rate Eingang zu verschaffen, was er sonst vielfach tut. Es genügt ihm das große und mächtige Beispiel Christi, besonders bezüglich seiner Forderung S. 426 nach Untertänigkeit. - Und nochmals: „Der Mann“, sagt er, „wird Vater und Mutter verlassen.“ Siehe, das ist von anderwärts genommen. Aber er fährt nicht fort: und wird mit seinem Weibe zusammenleben, sondern: „und wird seinem Weibe anhangen“, um damit die innigste Vereinigung, die stärkste Liebe zu bezeichnen. Ja er begnügt sich selbst damit nicht, sondern zeigt uns im folgenden die Unterordnung als eine solche, daß die zwei nicht mehr als zwei erscheinen. Er sagt nicht, sie werden ein Geist, eine Seele sein; denn das ist selbstverständlich und jedem möglich, sondern er drückt sich so aus: „Sie werden ein Fleisch sein.“
