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Œuvres Jean Chrysostome (344-407) In epistulam ad Colossenses commentarius Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Kolosser (BKV)
Zweite Homilie. *Kol. I, 9—15.*

4.

Nur eines müssen wir gleich jetzt sagen, um sodann den Vortrag zu beenden. Und was ist dies? Daß wir, die eine so große Wohltat genossen, verpflichtet sind, stets derselben eingedenk zu bleiben, das Gnadengeschenk Gottes immerwährend zu beherzigen und zu bedenken, wovon wir befreit und wessen wir teilhaftig geworden sind; so werden wir dankbar sein, so wird unsere Liebe zu ihm sich immer mehr steigern. — Was sagst du, o Mensch? Du bist für das Himmelreich berufen, für das Reich des Gottessohnes, und du gähnst vor lauter Schläfrigkeit und weißt nicht, wie du dich recken und strecken sollst, und bist ganz teilnahmslos? Wenn du auch jeden Tag tausendmal dich in den Rachen des Todes stürzen mußtest, hättest du dich nicht allem gerne unterziehen sollen? Um eine Ehrenstelle zu erlangen, bietest du alles mögliche auf; und um am Reiche des eingeborenen Sohnes Gottes teilzunehmen, willst du nicht in tausend Schwerter springen, nicht durchs Feuer gehen? Doch das ist noch nicht das Schlimmste; schlimmer ist, daß du selbst dann, wenn es zu scheiden gilt, wehklagst und dich ans Leben klammerst, von törichter Liebe zum Leibe befangen. Was soll denn das heissen? Hältst du wirklich den Tod für etwas so Schauerliches? Daran trägt die Üppigkeit und Weichlichkeit die Schuld; denn wer ein an Bitterkeiten reiches Leben lebt, der würde sich sogar Flügel wünschen, um von hier loszukommen. So aber ergeht es uns wie der verhätschelten jungen S. 264 Brut, die immerfort im Neste bleiben möchte: je länger wir bleiben, desto schwächlicher werden wir. Denn das gegenwärtige Leben gleicht einem aus Stroh und Lehm zusammengeklebten Neste. Du magst mir die großen Paläste, du magst mir selbst die kaiserliche Residenz zeigen, strahlend im reichen Schmucke des Goldes und kostbaren Gesteins: in meinen Augen werden sie sich in nichts von einem Schwalbenneste unterscheiden; denn sobald der Winter hereinbricht, werden sie alle von selbst zerfallen. Unter Winter aber verstehe ich den Jüngsten Tag. Nicht für alle wird er Winter sein, da ja auch Gott ihn zugleich Nacht und Tag heißt, Nacht für die Sünder, Tag für die Gerechten. In diesem Sinne nenne auch ich jetzt jenen Tag Winter. Sind wir im Sommer nicht gehörig herangewachsen, um bei herannahendem Winter fliegen zu können, so werden uns die Alten nicht mitnehmen, sondern dem Hungertode preisgeben oder mit dem Zerfalle des Nestes umkommen lassen. Denn wie ein Vogelnest, ja leichter noch als ein solches, reißt Gott an jenem Tage alles nieder, um eine Erneuerung und Umgestaltung der Dinge herbeizuführen. Wer da nicht flügge ist und nicht imstande, ihm in die Luft entgegenzueilen1, sondern sich in so gemeiner Weise gemästet hat, daß ihm der leichte Aufschwung verwehrt ist, der wird naturgemäß das Geschick derartiger Vögel teilen. Die Schwalbenbrut nun geht schnell zugrunde, wenn sie herabfällt; wir aber werden nicht (ein für allemal) zugrunde gehen, sondern unaufhörliche Strafe erleiden. Ein Winter wird jene Zeit sein, ja schlimmer noch als ein Winter. Denn da schüttet es nicht Regengüsse herab, sondern Feuer ströme; da entsteht nicht Finsternis infolge dichter Umwölkung, sondern undurchdringliche, lichtlose Finsternis, so daß man weder den Himmel sehen kann noch die Luft, sondern sich in fürchterlicherer Enge befindet als die lebendig im Schoße der Erde Begrabenen.

Wir betonen das immer wieder; aber auf gewisse Leute macht es keinen Eindruck. Doch es kann gar nicht Wunder nehmen, wenn es uns schwachen Menschen mit S. 265 der Predigt über dieses Kapitel also ergeht: ist es sogar den Propheten nicht anders ergangen, nicht allein wenn sie von diesen Dingen sprachen, sondern auch wenn sie Krieg und Gefangenschaft vorausverkündigten. Auch Sedekias wurde von Jeremias verwarnt, ohne sich dadurch rühren zu lassen. Deswegen sagten die Propheten: „Wehe euch, die ihr sprecht: Es nahe schnell, was Gott wirken will, damit wir es sehen; und es komme der Ratschluß des Heiligen Israels, damit wir es erfahren2!“ — Wundern wir uns darüber nicht! Wollten ja auch jene, die zur Zeit der Arche lebten, anfangs nicht glauben, sondern glaubten erst dann, als der Glaube ihnen nichts mehr nützte. Auch die Bewohner von Sodoma erwarteten nicht (das Strafgericht), sondern glaubten ebenfalls erst dann, als es ihnen nichts mehr half. Doch was rede ich von den kommenden Dingen? Wer hätte je an solche Ereignisse gedacht, wie sie jetzt in verschiedenen Gegenden geschehen, die Erdbeben, denen ganze Städte zum Opfer fallen3? Fürwahr, diese Ereignisse verdienen noch weit größere Beachtung als jene — zur Zeit der Sündflut, meine ich. Woraus ergibt sich das? Weil die Menschen jener Zeit noch kein anderes Beispiel vor sich sahen und noch nichts von der Hl. Schrift gehört hatten. Den Menschen der Gegenwart aber liegt eine zahllose Menge von Tatsachen vor Augen, die sich teils in unseren Tagen, teils in früheren Jahrhunderten zugetragen haben. Woher kommt es doch, daß man sich durch solche Beispiele nicht warnen läßt? Von dem Wohlleben. „Sie aßen und tranken4“, und deshalb glaubten sie nicht. Denn was man wünscht, das glaubt man auch, das erwartet man auch; und wer da widerspricht, ist ein Schwätzer. — Verfallen wir doch nicht in diesen Fehler! Denn es wird fürder keine Sündflut mehr geben und keine Strafe bis zur Vertilgung, sondern für diejenigen, welche an kein Gericht glauben, wird der Tod der Anfang ewiger Peinen sein. — Ja, sagt man, wer ist denn aus dem Jenseits wiedergekommen und hat das erzählt? S. 266 Selbst wenn du solches nur im Scherze sprichst, so ist es nicht schön; denn mit solchen Dingen darf man nicht scherzen. Wir treiben da Scherz mit etwas, das nicht spaßhaft, sondern sehr gefährlich ist. Sollte es aber dein Ernst sein und glaubst du wirklich nicht, daß es nach diesem Leben noch etwas gebe, wie magst du dich dann einen Christen nennen? Denn mit den Ungläubigen habe ich nichts zu schaffen.


  1. Vgl. 1 Thess. 4, 16. ↩

  2. Is. 5, 19. ↩

  3. Diese Ereignisse fallen in das Jahr 398. ↩

  4. Vgl. Matth. 24, 38; Luk, 17, 27. ↩

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