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Œuvres Jean Chrysostome (344-407) In epistulam ad Colossenses commentarius Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Kolosser (BKV)
Sechste Homilie. *Kol. II, 6—15.*

2.

Beachte, wie er mit dem gegen diese gerichteten Tadel die Aufstellung jener1 entkräftet, indem er zuerst die Lösung und dann erst den Einwurf bringt! Denn eine solche Lösung ist unverdächtig, und der Zuhörer nimmt sie umso lieber an, weil sie vom Redner nicht beabsichtigt erscheint. Während er nämlich sonst sich eifrig bemüht, um nicht für überwunden zu gelten, tut er dies hier nicht. — „Denn in ihm wohnt“, sagt er. Das heißt, daß Gott in ihm wohnt. Damit du aber nicht wähnest, er sei eingeschlossen wie in einem Körper, setzt S. 315 er bei: „Die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid in ihm erfüllt.“ — Andere sagen, er nenne die Kirche erfüllt von seiner Gottheit, wie er an anderer Stelle spricht: „Der alles in allem erfüllt2.“; der Ausdruck „leibhaftig“ aber bedeute hier: wie im Haupte der Leib. Warum fügte er dann nicht hinzu: welches die Kirche ist? — Oder es wollen einige die Stelle vom Vater verstanden wissen, daß in ihm die Fülle der Gottheit wohne; (aber mit Unrecht.) Erstens, weil der Ausdruck „wohnen“ nicht im eigentlichen Sinne von Gott gebraucht wird; zweitens, weil die „Fülle“ nichts mehr in sich aufnehmen kann; „Denn des Herrn ist die Erde und ihre Fülle3“; und wiederum sagt der Apostel: „Bis die Fülle der Heiden eingegangen ist4.“ Das Ganze wird Fülle genannt. — Was will sodann der Ausdruck „leibhaftig“ besagen? Wie im Haupte. — Warum aber bringt er dasselbe noch einmal vor: „und ihr seid in ihm erfüllt“? Was hat also das für einen Sinn? Daß ihr in nichts ihm nachsteht. Gleichwie in ihm die Gottheit wohnte, so wohnt sie auch in euch. — Denn Paulus gibt sich immer Mühe, uns in die Nähe Christi zu bringen, so wenn er sagt: „Er hat uns mitauferweckt und mitversetzt5“; und: „Wenn wir ausharren, werden wir auch mitherrschen6..; und: „Wie wird er uns nicht auch mit ihm alles schenken7?“ und wenn er uns „Miterben8“ nennt. — Sodann spricht er von der hohen Würde Christi: „Und er ist das Haupt jeder Fürstenwürde und Gewalt.“ Erhaben über alles, der Urgrund von allem, sollte er nicht gleichen Wesens (mit dem Vater) sein? — Sodann kommt er auf die göttliche Wohltat in einer bewunderungswürdigen Weise zu sprechen, noch viel bewunderungswürdiger als im Briefe an die Römer. Denn dort sagt er: „Eine Beschneidung des S. 316 Herzens im Geiste, nicht im Buchstaben9“; hier dagegen: „in Christus“.

V. 11: „In welchem ihr nämlich auch beschnitten wurdet“, sagt er, „mit einer nicht von Händen gemachten Beschneidung, in der vollständigen Ausziehung des Leibes der Sünden des Fleisches, in der Beschneidung Christi10.“

Beachte, wie nahe er der Sache kommt! — „In der vollständigen Ausziehung (ἀπεκδύσει)“ heißt es; das einfache ἐκδύσει genügte ihm nicht. — „Des Leibes der Sünden“; er meint den früheren Lebenswandel. — Beständig und in den verschiedensten Ausdrücken wandelt er dieses Thema ab, wie er auch oben sagte: „Der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis11“, „und uns, die wir völlig entfremdet waren, versöhnt hat, auf daß wir heilig und untadelhaft wären12“. Der Sinn ist: Die Beschneidung geschieht nicht mehr mit dem Messer, sondern in Christus selbst; denn nicht die Hand führt, wie dort, diese Beschneidung aus, sondern der Heilige Geist; er beschneidet nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Menschen. Um einen Leib handelt es sich hier wie dort; allein der eine wird dem Fleische nach, der andere dem Geiste nach beschnitten. Aber nicht wie bei den Juden; denn ihr habt nicht das Fleisch, sondern die Sünden abgelegt. Wann und wo? In der Taufe. Und was er Beschneidung nennt, das heißt er anderswo wieder Grab. — Beachte, wie er abermals auf die Rechtfertigung zu sprechen kommt! Er sagt: „Der Sünden des Fleisches“, die sie im Fleische begangen hatten. Was er meint, übertrifft die Beschneidung bei weitem; denn sie haben das Beschnittene nicht bloß weggeworfen, sondern zerstört, vernichtet. — Er fährt fort:

V. 12: „Mit ihm begraben in der Taufe, in welchem ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die Wirksamkeit Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten.“

S. 317 Es ist jedoch nicht bloß vom Grabe die Rede. Beachte nur seine Worte! „In welchem ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die Wirksamkeit Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten.“ Ganz treffend spricht er: „durch den Glauben“; denn das Ganze ist ein Werk des Glaubens. Ihr glaubtet, daß Gott die Macht habe, vom Tode aufzuerwecken, und so wurdet ihr auferweckt. Sodann führt er auch den Grund an, warum dies Glauben verdient: „der ihn auferweckt hat“, sagt er, „von den Toten“. — Er weist nunmehr hin auf die Auferstehung.

V. 13: „Auch euch, die ihr einst13 tot waret durch14 die Übertretungen und die Vorhaut eures Fleisches, hat er mitbelebt mit ihm ...“

Denn von Rechts wegen waret ihr dem Tode verfallen. Wenn ihr aber auch gestorben wäret, so hättet ihr einen verdienten Tod erlitten. — Beachte, wie er wiederum auf die Gnaden hinweist, deren sie gewürdigt wurden, durch die er sie (zu Gott) hinführte! „... indem er uns alle Übertretungen in Gnaden erließ“:

V. 14: „indem er den wider uns lautenden Schuldbrief des Gesetzes, der uns entgegen war, durch die Satzungen (τοῖς δόγμασιν) auslöschte; und er schaffte ihn aus dem Wege, indem er ihn ans Kreuz nagelte;“

V. 15: „entwaffnend die Fürstentümer und Gewalten, stellte er sie kühnlich zur Schau, indem er offen über sie triumphierte in sich selbst.“

„Indem er uns“, heißt es, „alle Übertretungen in Gnaden erließ“, die den Tod verursachten. Wie nun? Ließ er sie fortbestehen? Nein, sondern er löschte sie sogar aus; er strich nicht bloß den Schuldbrief durch, so daß (von der Schrift) nichts mehr zu sehen ist. — „Durch die Satzungen“, heißt es. Durch was für Satzungen? Durch den Glauben; es genügt zu glauben. Er stellt nicht Werke und Werke nebeneinander, sondern Glauben und S. 318 Werke. Und was weiter? Eine Steigerung des Erlassens ist das Auslöschen. Wieder heißt es: „und er schaffte ihn aus dem Wege“. Und nicht einmal in dieser Weise bewahrte er ihn auf, sondern er zerriß ihn, „indem er ihn ans Kreuz nagelte“, „Entwaffnend die Fürstentümer und die Gewalten, stellte er sie kühnlich zur Schau, indem er offen über sie triumphierte in sich selbst.“ Nirgends erhebt sich die Sprache des Apostels zu so großartigem Schwunge wie hier.


  1. Der Juden. ↩

  2. Eph. 1, 23. ↩

  3. Ps. 23, 1. ↩

  4. Röm. 11, 25. ↩

  5. Eph. 2, 6. ↩

  6. 2 Tim. 2, 12. ↩

  7. Röm, 8, 32 (nach dem griechischen Texte.) ↩

  8. Ebd. 8, 17. ↩

  9. Röm. 2, 29. ↩

  10. Nach dem griechischen Texte. ↩

  11. Kol. 1, 13. ↩

  12. Vgl. Kol. 1, 21. 22. ↩

  13. Im gewöhnlichen griechischen Texte fehlt πότε. ↩

  14. Der hl. Chrysostomus setzt den bloßen Dativ; der gewöhnliche Text lautet: ἐν τοῖς παραπτώμασι. ↩

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