IV.
Siehst du, wie Nichts aus Furcht Gottes geschieht oder aus Liebe zu ihm, sondern Alles zum Theil aus Freundschaft, zum Theil aus Gewohnheit. Wenn wir von einem Freunde Abschied nehmen, dann weinen und seufzen wir, und sehen wir ihn gar auf der Bahre, dann wehklagen wir, obschon wir wissen, daß er nicht ganz für uns verloren ist, sondern daß wir ihn bei der Auferstehung wiedersehen werden. Wenn aber Christus tagtäglich von uns Abschied nimmt oder vielmehr, wenn wir Christum tagtäglich fortjagen aus unserer Nähe, da empfinden wir keinen Schmerz, da glauben wir nichts Böses zu thun, indem wir ihn he leidigen, kränken, schmähen und thun, was er nicht haben will. Aber Das ist noch nicht so schauderhaft, daß wir ihn nicht einmal wie einen Freund behandeln. Ich werde beweisen, daß wir ihn sogar als Feind behandeln. Wie so? „Der Gedanke des Fleisches,“ sagt Paulus, „ist feindlich gegen Gott.“ Mit diesem Gedanken nun gehen wir fortwährend umher, Christum aber, der sich fortwährend uns nähern will und vor unsere Thüren kommt, verfolgen wir. Die bösen Werke nämlich sind diese Verfolger. Täglich lassen wir ihn mißhandeln durch unsern Geiz und unsere räuberischen Handlungen. Es wird Jemand als bedeutender Mann gepriesen, als guter Prediger, als Kirchenlicht: gleich beneiden wir ihn, weil er das Interesse Gottes fördert. Es scheint zwar, daß unser Neid diesem S. 50 Manne gilt, aber er zielt auf Christus. Nicht doch, sagt man, sondern wir wünschen nur, daß diese Förderung nicht durch Andere, sondern durch uns geschehe. Also nicht durch Christus, sondern durch uns! Denn wenn durch Christus, so wäre es uns gleichgiltig, ob sie durch uns oder durch Andere geschieht. Sage mir, wenn ein Arzt ein Kind hat, das daran ist, zu erblinden, und er selber versteht es nicht zu kuriren, aber er findet einen Andern, der es kann, wird er Diesem sein Haus verschließen? Keineswegs, sondern er wird zu ihm sagen: Ob durch dich oder durch mich die Kur geschieht, ist gleichgiltig. Warum? Weil er nicht sein persönliches Interesse im Auge hat, sondern das des Kindes. Und so würden auch wir, wenn wir das Interesse Christi im Auge hätten, sagen: Mag es durch uns oder durch einen Andern gefördert werden! „Christus wird verkündet, sei es in Wahrheit, sei es zum Vorwand,“ sagt der Apostel.1 Höre, was Moses sagt zu Denen, die ihn aufreizen wollten, als die Anhänger des Eldad und Modad prophezeiten: „Ereifere dich nicht für mich! O daß Jemand es machen könnte, daß das ganze Volk zu Propheten des Herrn werde!“2 — Also diese Dinge haben sämmtlich ihre Quelle im Ehrgeiz. Ist Das nun nicht ein Gebahren, wie es Feinden und Gegnern (Gottes) zukommt? Einer hat dich geschmäht? Du sollst ihn lieben! Und wie ist Das möglich? Es ist möglich, ganz gut möglich, wenn du willst. Wenn du einen Lobredner von dir liebst, dann hast du kein Verdienst. Das thust du nicht um des Herrn willen, sondern um des Lobes willen. Es hat dir Einer Schaden zugefügt? Erweise ihm eine Wohlthat! Hast du einem deiner Wohlthäter eine Wohlthat erwiesen, so hast du nichts Großes gethan! Es wurde dir schweres Unrecht, schwerer Verlust zugefügt? Beeile dich, es mit dem Gegentheil zu vergelten! Ja, so wollen wir unseren Lebenswandel einrichten! Das lege ich euch an’s Herz. Hören wir auf, S. 51 Unrecht zu thun und die Feinde zu hassen! Der Herr befiehlt uns Feindesliebe, und wir verfolgen ihn, unsern Freund! Gott bewahre, sagt man. Ja, mit Worten protestiren wir alle dagegen, mit den Thaten aber nicht. So groß ist die Verblendung der Sünde, daß, was in Worten unerträglich ist, in Thaten erträglich wird. Lassen wir endlich einmal, was unser ewiges Heil schädigt und vernichtet, damit uns zu Theil werde, was für die Freunde (Christi) bestimmt ist! „Ich will,“ heißt es, „daß, wo ich bin, auch meine Jünger seien, damit sie meine Herrlichkeit sehen.“3 Diese möge uns allen zu Theil werden durch die Gnade und Barmherzigkeit unsers Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater und dem hl. Geiste sei Lob, Macht und Ehre jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen.