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Œuvres Jean Chrysostome (344-407) In epistulam i ad Timotheum argumentum et homiliae 1-18 Homilien über den I. Brief an Timotheus (BKV)
Sechste Homilie.

II.

All unser Gebet soll also eine Danksagung enthalten. Wenn aber das Gebot an uns ergeht, für die Nebenmenschen zu beten, nicht bloß für die Gläubigen, sondern auch für die Ungläubigen, so bedenke, was für eine große Sünde es ist, dem Bruder zu fluchen. Wie? Der Herr befiehlt dir, für die Feinde zu beten, und du fluchst dem Bruder? Nicht ihm fluchst du, sondern dir selber. Du erzürnst Gott, indem du so unheilige Worte zu ihm sprichst wie: „So und so behandle ihn! So und so mach es ihm! Schlage ihn! Laß es ihn entgelten!“ So Etwas sei ferne von ächten Jüngern Christi, die sanftmüthig sein sollen! Aus dem Munde, der eines so hehren Geheimnisses würdig befunden wird, soll die Zunge, die den Leib Gottes berührt hat, kein bitteres, kein hartes Wort entsenden. Halten wir sie rein, stoßen wir keine Flüche aus durch sie. Wenn die Lästerer keinen Theil haben am Himmelreich, um so weniger Diejenigen, so verfluchen. Der Verfluchende lästert den Andern; natürlich. Lästerung und Gebet aber sind sehr weit von einander. Zwischen Fluch und Gebet liegt ein großer Zwischenraum. Schmähung und Gebet sind weit getrennte Dinge. Du willst mit deinem Gebete Gott gnädig stimmen und fluchst dem Andern? Wenn du nicht vergibst, so wird auch dir nicht vergeben werden. Aber nicht nur daß du selber nicht vergibst, forderst du auch Gott noch auf, nicht zu vergeben. Siehst du die Größe dieser Sünde? Wenn schon Dem, der nicht vergibt, nicht vergeben wird, wie soll erst Dem vergeben werden, der den Herrn auffordert, nicht zu vergeben? Du schadest nicht dem Andern, sondern dir selber. Wie so? Wenn du auch sonst für dich Erhörung gefunden hattest, so wirst du sie deßwegen niemals finden, weil du mit beflecktem Munde deine Ge- S. 79 bete verrichtest. Wahrhaftig, befleckt ist ein solcher Mund, unrein, voll von Gestank und Schmutz. Du solltest zittern wegen deiner Sünden und solltest alles Mögliche thun, um sie zu beseitigen, und du trittst zu Gott hin mit der Zumuthung, er solle gegen deinen Bruder auftreten. Mußt du nicht für dich selber fürchten und zagen? Siehst du nicht, was du damit anrichtest? Nimm dir wenigstens an den Knaben ein Beispiel, die in die Schule gehen! Wenn diese sehen, wie drinnen ihre Mitschüler über die Lektion abgehört werden und wegen ihres Leichtsinns sämmtlich Hiebe bekommen, und wie jeder einzeln streng ausgefragt und mit Schlägen gezüchtigt wird, dann sind sie halbtodt vor Angst. Und wenn sie auch auf dem Herweg von ihren Begleitern hundertmal geschlagen worden sind, da vergessen sie allen Groll, weil das Herz von Angst beklommen ist, und es fällt ihnen nicht ein, beim Lehrer eine Anzeige zu machen, sondern sie denken nur an das Eine, daß sie hinein- und ohne Prügel wieder herauskommen; Das allein haben sie im Auge. Und sind sie heraussen, sei es nun daß sie Schläge erhalten haben oder nicht, so kommen ihnen jene Balgereien gar nicht mehr in den Sinn vor lauter Freude. Du aber, dastehend in Sorge wegen deiner eigenen Sünden, du schauderst nicht davor zurück, der fremden zu gedenken? Und was soll Das heissen, Gott herauszufordern? Durch Das, was du ihm zum Schaden des Andern zumuthest, machst du auch deine Lage nur schlimmer; du gestattest Gott nicht, deinen Sünden Verzeihung angedeihen zu lassen. Wenn du verlangst, sagt Gott, daß ich die dir zugefügten Unbilden so scharf ahnde, wie kannst du mir zumuthen, daß diejenigen, die mir durch dich zugefügt wurden, Verzeihung finden sollen?

Lernen wir endlich einmal Christen zu sein! Wenn wir nicht einmal zu beten verstehen, was doch so bequem und so leicht ist, wie werden wir die anderen Dinge verstehen? Lernen wir beten wie Christen! Jene Verwünschungen gehören unter die Heiden, jene Fluchgebete unter S. 80 die Juden. Beim Christen ziemt sich das Gegentheil, wir müssen Verzeihung und Amnestie erflehen für die uns zugefügten Beleidigungen. „Man flucht uns,“ heißt es, „und wir segnen; wir werden verfolgt und leiden es mit Geduld; wir werden gelästert und beten.“1 Höre, was Stephanus sagt: „Herr, rechne ihnen Das nicht zur Sünde!“2 Sein Gebet lautete nicht gegen, sondern für sie. Dein Gebet aber lautet nicht bloß nicht zu Gunsten, sondern zum Schaden des Andern. In dem Grade, als jener Heilige bewundernswerth ist, bist du ein Nichtswürdiger. Wer verdient unsere Bewunderung, sag’ es mir! Diejenigen, für welche Stephanus betete, oder er, der Betende? Er, offenbar. Und wenn wir ihn bewundern, so thut es noch viel eher Gott. Willst du deinem Feinde eine Züchtigung bereiten? Bete für ihn, aber nicht in solcher Gesinnung, nicht in der Absicht, sie ihm zu bereiten! Es geschieht, aber du darfst nicht diesen Zweck dabei im Auge haben. Der hl. Stephanus ferner hat Alles erduldet, ohne es verdient zu haben, und legte Fürbitte ein. Wir dagegen verdienen gar Manches, was wir von Seite unserer Feinde erleiden. Wenn aber der unschuldig Leidende es nicht über sich brachte, die Fürbitte zu unterlassen, welche Strafe verdienen dann wir nicht, die wir Verdientes leiden und dabei nicht bloß keine Fürbitte, sondern sogar Fluch aus sprechen? Scheinbar führst du auf den Andern einen Hieb, in Wahrheit aber stößest du dir selber das Schwert in die Brust, indem du nicht gestattest, daß der Richter bei deinen Sünden ein Auge zudrücke, weil du seine Strenge gegen Fremde herausforderst. „Mit dem Maaße, mit welchem ihr einmesset, wird euch auch wieder ausgemessen werden,“ heißt es, „und wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden.“3 Seien wir also geneigt zur Verzeihung, damit sie auch uns von Gott zu Theil werde!

S. 81 Ich wünsche, daß ihr diese Lehren nicht bloß anhöret, sondern auch befolget. Jetzt im Augenblick reicht euer Gedächtniß noch aus für meine Worte, binnen Kurzem aber auch dafür nicht mehr, sondern wenn wir aus einander gegangen sind, und es frägt Einer von den nicht Anwesenden, über was ich gepredigt habe, so werden die Einen gar Nichts sagen können, die Andern, die Etwas wissen, werden das Hauptthema angeben, über das ich sprach, daß ich davon predigte, man solle Beleidigungen verzeihen, ja sogar für die Feinde beten, aber von dem Einzelnen, was ich vorbrachte, wissen sie Nichts zu erzählen. Man kann sich nicht Alles merken, andere merken sich wenig, aber doch Einiges. Deßhalb rufe ich euch zu, wenn ihr aus dem Gesagten keinen Gewinn ziehet, merket lieber gleich gar nicht auf! Denn was hilft es? Es fällt nur das Gericht schärfer, nur die Strafe härter aus, weil wir nach tausend Ermahnungen in demselben Lebenswandel beharren.

Deßhalb hat uns Gott auch ein Gebet vorgeschrieben, damit wir um nichts Weltliches, um nichts Irdisches bitten. Ihr Gläubigen wisset, um was man beten muß, und wie das ganze Gebet für Alle gemeinsam ist. Aber es steht darin kein Wort, erwidert man, das ein Gebet für die Ungläubigen enthielte. Weil ihr den eigentlichen Inhalt des Gebetes, seinen tiefen Sinn, seinen kostbaren Kern nicht kennet. Wenn es Einer entfaltet, dann wird er finden, was darin liegt. Spricht nämlich der Betende: „Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auch auf Erden,“ so deutet er damit nichts Anderes an als jenen Gedanken. Wie so? Im Himmel gibt es keinen Ungläubigen, Niemanden, der Anstoß erregt. Wenn nun diese Bitte sich auf die Gläubigen allein bezöge, so hätte sie keinen Sinn. Denn wenn nur die Gläubigen den Willen Gottes thun sollten, die Ungläubigen aber nicht, dann würde er nicht mehr so gethan wie im Himmel. Wie ist also die Sache zu verstehen? Gleichwie es im Himmel keinen Sünder gibt, so soll es auch auf Erden keinen geben, sondern alle Menschen S. 82 sollst du, o Gott, hinleiten zu deiner Furcht, alle sollst du zu Engeln machen, auch wenn sie unsere Gegner und Feinde sind.

Siehst du nicht, wie Gott jeden Tag gelästert wird? wie er beleidigt wird von den Ungläubigen und den Gläubigen? sowohl mit Worten als mit Thaten? Wie nun? Hat er deßhalb die Sonne ausgelöscht? den Mond einschlafen lassen? das Himmelsgewölbe zerbrochen? die Erde erschüttert? das Meer ausgetrocknet? die Wasserquellen versiegen, den Luftkreis in einander rinnen lassen? Keineswegs! Ganz im Gegentheil. Er läßt die Sonne aufgehen, spendet Regen, läßt Früchte und Nahrung regelmäßig sprossen für die Lästerer, für die Thoren, für die Sünder, für die Verfolger, nicht einen Tag, nicht zwei, nicht drei, sondern ihr ganzes Leben hindurch. Ihn sollst auch du dir zum Beispiele nehmen! Ihn ahme nach, so weit es nach menschlicher Kraft möglich ist! Du kannst freilich nicht die Sonne aufgehen lassen: aber lästere Niemand! Du kannst keinen Regen spenden: aber schmähe nicht! Du kannst keine Nahrung wachsen lassen: aber behandle Niemanden übermüthig! Diese Gaben genügen von deiner Seite. Die Wohlthätigkeit Gottes gegen seine Feinde ausser sich in Werken, du kannst es bei Worten bewenden lassen. Bete für deinen Feind. So wirst du deinem Vater im Himmel ähnlich sein.

Tausendmal habe ich schon über diesen Gegenstand gepredigt, und ich höre nicht auf, darüber zu predigen. Möchte es doch ein wenig mehr Wirkung haben. Ich werde nicht lässig, nicht müde; es macht mir keine Beschwerde, darüber zu reden. Geht nur ihr euch nicht den Anschein, als ob euch das Zuhören zur Last falle! Es gibt sich aber Jemand diesen Anschein, wenn er das Gesagte nicht thut. Denn wer es thut, der hört gerne immerfort das Nämliche an wie Jemand, dem man nicht S. 83 Unangenehmes, sondern Angenehmes sagt. Das Lästigfallen kommt nirgends anders her als davon, daß man das Gesagte nicht thut. Das macht den Prediger lästig. Nicht wahr, wenn Jemand Almosen gibt, und es predigt ein Anderer über das Almosengeben, dann wird er beim Zuhören nicht nur nicht ärgerlich, sondern er freut sich sogar, wenn er hört, wie seine eigenen guten Werke besprochen und verkündet werden. So ist’s auch bei uns. Weil wir keine Langmuth in Leiden besitzen und in diesem Stücke Nichts geleistet haben, deßhalb zeigen wir uns ungehalten, wenn darüber die Rede ist; hätten wir Werke aufzuweisen, dann würde uns die Predigt darüber nicht beschwerlich fallen. Wenn ihr also wollt, daß ich euch nicht lästig werde und nicht zuwider, so thuet also, beweiset es durch Thaten! Denn ich werde niemals aufhören, euch über den nämlichen Gegenstand zu predigen, bis es eine gute Wirkung bei euch hat. Ich thue es ja zunächst aus Fürsorge, aus Liebe gegen euch, dann aber auch wegen der Gefahr, der ich mich sonst aussetze. Der Trompeter muß blasen, auch wenn Niemand in den Krieg zieht; Das ist seines Amtes. Also nicht um eure Strafe zu verschärfen, thue ich Das, sondern um mich selber sicher zu stellen. Ausserdem aber läßt mich auch die Liebe zu euch nicht schweigen. Es würde mir das Herz zerreissen vor Schmerz, wenn so Etwas einträte. Aber Das sei ferne! Wovon ich jetzt spreche, Das verursacht ja keine Kosten, Das verlangt keine Geldopfer, Das macht keine Umstände. Man braucht nur zu wollen, es kostet nur ein Wort, einen Entschluß. Wir müssen nur unsern Mund in Acht nehmen, Thüre und Riegel davor anbringen, damit wir keine Äusserung machen, die Gott nicht gefällt. In unserem eigenen Interesse geschieht es, nicht im Interesse Derer, für die wir beten. Das sollen wir immer bedenken, daß Derjenige, der seinen Feind segnet, sich selber segnet, und wer ihm flucht, sich selber flucht, und daß, wer für seinen Feind betet, für sich selber betet, nicht für jenen. Handeln wir in diesem Sinne, dann werden wir S. 84 im Stande sein, diese schöne Idee zu verwirklichen und der verheissenen Seligkeit theilhaftig zu werden durch die Gnade und Barmherzigkeit unsers Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater und heiligen Geiste sei Herrlichkeit Macht und Ehre jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen.

S. 85


  1. I. Kor. 4, 2. ↩

  2. Apostelg. 7, 59. ↩

  3. Matth. 7, 2. ↩

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Homilien über den I. Brief an Timotheus (BKV)

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