II.
16. Bei meiner ersten Vertheidigung hat mir niemand zur Seite gestanden, Alle haben mich im Stiche gelassen. Möge es ihnen nicht angerechnet werden!
Siehst du, wie schonend er sich gegen die Seinigen ausdrückt, obschon sie einen schlimmen Fehler begangen hatten? S. 390 Denn es ist nicht das Gleiche, von einem Fremden oder von einem Angehörigen Mißachtung zu erfahren. Siehst du auch, wie trostlos die Lage des Apostels ist? Man kann mir nicht erwidern, will er sagen, daß ich mich bloß gegen Fremde zu wehren, dabei aber den Trost hatte, von den Meinigen gepflegt und unterstützt zu werden; nein, auch diese haben mich verrathen: „Alle haben mich im Stiche gelassen.“ Das ist also keine geringe Sünde. Denn wenn schon im Kriege Derjenige, der einen gefährdeten Kameraden verläßt und sich der Hand des Feindes entzieht, von den Seinigen mit Recht gestraft wird als Urheber des ganzen Unglücks und als Verräther, so trifft Das in noch höherem Maße beim christlichen Predigtamte zu.
Was versteht aber der Apostel unter der „ersten Vertheidigung“ für eine? Er hatte schon einmal vor Nero gestanden, war aber mit dem Leben davon gekommen; weil er aber seinen Mundschenk zum Christenthum bekehrte, ließ Jener ihn später enthaupten. Betrachte nun wieder, welche Ermuthigung für den Jünger in den nun folgenden Worten liegt:
17. Aber der Herr ist mir beigestanden und hat mich gekräftigt.
Gott läßt nämlich den von den Menschen Verlassenen nicht zu Grunde gehen. „Er hat mich gekräftigt,“ heißt es. Das will sagen, er hat mir Muth gegeben, er ließ mich nicht sinken.
„Damit durch mich die Predigt des Evangeliums erfüllt (d. h. vollendet) werde.“ Siehe hier die große Demuth des Apostels! Nicht als ob ich dieser Gnade würdig gewesen, will er sagen, hat er mich gekräftigt, sondern damit die Predigt des Evangeliums erfüllt werde, die er mir anvertraut hat. Es ist gerade, wie wenn S. 391 Einer Purpur und Krone trägt und deßhalb verschont bleibt.
„Und damit alle Heidenvölker sie hören.“ Was will Das sagen? Allen Heiden soll das Licht des Evangeliums offenbar werden und das Walten der göttlichen Vorsehung über mir.
Er hat mich befreit aus dem Rachen des Löwen.
18. Und der Herr wird mich von jedem bösen Werke befreien.
Man sieht, wie nahe er schon dem Tode gewesen. Mit dem „Löwen“ meint er den Nero, wegen seines bestialischen Wesens, wegen seiner kaiserlichen Gewalt und wegen der unbedenklichen Wahl seiner Mittel. „Der Herr hat mich befreit,“ sagt er, „und wird mich befreien.“ Wenn er ihn wieder befreien wird, wie kann er dann sagen: „Ich werde bereits als Trankopfer ausgegossen“? Nun, sieh’ dir den Ausdruck genau an! „Er hat mich befreit,“ heißt es, „aus dem Rachen des Löwen; er wird mich wieder befreien,“ — nicht mehr aus dem Löwenrachen, — sondern „von jedem bösen Werke“. Das erste Mal hat er mich aus Gefahren gerettet; nachdem aber für das Evangelium das Geeignete geschehen, wird er mich wieder von jeder Sünde befreien, d. h. er wird nicht zulassen, daß ich im Sündenzustande von hinnen scheide. Es ist ja auch dieser Widerstand gegen die Sünde bis auf’s Blut, dieses Festbleiben gegen dieselbe eine Befreiung aus dem Rachen eines andern Löwen, nämlich des Teufels. Es ist daher diese Rettung im Augenblicke, wo er preisgegeben scheint, von noch größerer Bedeutung als jene erstere.
„Und er wird mich retten zu seinem himmlischen Reiche; ihm sei Ehre von Ewigkeit zu S. 392 Ewigkeit. Amen.“ Also darin besteht die Rettung, daß wir im Jenseits verklärt werden. Was heißt: „Er wird mich retten zu seinem himmlischen Reiche“? Er wird mich von jeder Schuld befreien und mich für das Jenseits behüten. Das will sagen: „Er wird mich retten zum Himmelreich,“ nämlich wenn wir hienieden um desselben willen sterben. Denn „wer seine Seele in dieser Welt hasset, der wird sie erhalten zum ewigen Leben,“ heißt es in der Schrift.1
„Welchem sei Ehre!“ Eine Doxologie für den Sohn.
19. Grüße die Priscilla und den Aquila und das Haus des Onesiphorus!
Der Letztere selber war damals bei ihm in Rom, wie es von ihm heißt: „Der Herr lasse ihn Barmherzigkeit finden bei dem Herrn an jenem Tage!“2 Durch die namentliche Erwähnung dieses Mannes muntert er auch seine Angehörigen mehr auf zu solch schönen Thaten.
„Grüße die Priscilla und den Aquila.“ Diese sind’s, deren er fortwährend gedenkt, bei denen er selber Einkehr genommen und auch Apollo gastliche Aufnahme gefunden hatte. Den Namen der Frau setzt er voraus, vielleicht weil sie noch mehr Glaubenseifer bewiesen; sie war es ja auch, die den Apollo damals aufgenommen; möglicherweise aber steht ihr Name auch bloß zufällig voran. Jedenfalls war dieser Gruß ein nicht geringer Trost für die Beiden, ja dieser Gruß enthielt einen Beweis von Ehrung und Liebe sowie einen Erweis großer Gnade; denn es genügt ein bloßer Gruß von jenem heiligen und gottse- S. 393 ligen Manne, um Denjenigen, welcher dessen gewürdigt wird, mit einer Fülle von Gnade zu überschütten.
20. Erastus ist in Korinth geblieben, den Trophimus aber habe ich krank in Milet zurückgelassen.
Diesen und den Tychikus kennen wir bereits aus der Apostelgeschichte, da sie von Judäa aus mit ihm gereist und überall um ihn waren, vielleicht wegen ihres hervorragenden Eifers.
„Den Trophimus aber habe ich krank in Milet zurückgelassen.“ Warum hast du ihn denn nicht geheilt, o Paulus, sondern krank zurückgelassen? Die Apostel waren nicht allmächtig, oder sie machten nicht von der ihnen verliehenen Gewalt Gebrauch, „damit Niemand mehr von ihnen halte, als er sieht“.3 Dasselbe nehmen wir auch an den seligen Gerechten früherer Zeit wahr, z. B. an Moses. Dieser stotterte. Warum machte er sich nicht frei von diesem Fehler? Oftmals war er in Schmerz und Kummer versunken; er ist nicht in’s Land der Verheissung gelangt.