I. Kapitel: Von Honoratus,1 dem Abt des Klosters zu Fundi.2
Der Patrizier Venantius besaß einst in Samnium ein Landgut, dessen Pächter einen Sohn namens Honoratus hatte. Dieser entbrannte schon in den Knabenjahren infolge seiner Enthaltsamkeit von großer Liebe zur himmlischen Heimat. Er zeichnete sich durch seinen Wandel aus, unterdrückte jedes unnütze Wort und zügelte, wie schon erwähnt, durch Enthaltsamkeit sein Fleisch in hohem Grade. Da gaben seine Eltern eines Tages den Nachbarn ein Gastmahl, bei welchem auch Fleischspeisen aufgetragen wurden. Da nun der Heilige aus Liebe zur Enthaltsamkeit sich weigerte, diese Gerichte zu berühren, ergingen sich seine Eltern über ihn in Spottreden und sagten: „Iß doch, oder glaubst du etwa, wir könnten dir hier auf diesen Bergen einen Fisch vorsetzen?” In jener Gegend waren aber die Fische nur vom Hörensagen, nicht vom Sehen bekannt. Während S. 5 nun Honoratus die Zielscheibe des Spottes war, ging auf einmal bei Tisch das Wasser aus; sogleich ging ein Sklave mit einem hölzernen Eimer, wie man sie dort benutzt, zur Quelle. Und während er Wasser schöpfte, schwamm ein Fisch in den Eimer hinein. Zurückgekehrt, goß der Sklave vor den Augen der Gäste auch den Fisch mit aus, der dem Honoratus zur Nahrung für einen ganzen Tag gereicht hätte. Alle gerieten darob in Verwunderung, und das ganze Spottgerede der Eltern hatte ein Ende. Sie ehrten nunmehr an Honoratus die Enthaltsamkeit, die sie vorher verlacht hatten; und so hat ein Bergfisch den Mann Gottes aus Spott und Hohn befreit. Da er immer mehr an Tugenden zunahm, wurde ihm von seinem oben genannten Herrn die Freiheit geschenkt. Er gründete darauf in Fundi ein Kloster, in welchem er ungefähr zweihundert Mönchen als Abt vorstand, und gab von dort aus im ganzen Umkreis das Beispiel eines außerordentlichen Tugendwandels. Eines Tages nämlich löste sich von dem Berge, der das Kloster hoch überragte, ein großes Felsstück los, das auf der abschüssigen Bergwand herunterrollte und das ganze Kloster samt allen Mönchen mit dem Untergang bedrohte. Als der Heilige den Stein herabkommen sah, rief er sogleich oft nacheinander den Namen Christi an, streckte seine Rechte aus, machte das Kreuzzeichen entgegen und hielt so den Stein an der steilen Berglehne fest, wie es Laurentius, ein frommer Mann, bezeugt. Und da keine Stelle da war, wo der Stein fest hätte aufliegen können, meint man heute noch beim Hinaufschauen, der Stein wolle herabstürzen.
Petrus. Hat wohl dieser ausgezeichnete Mann früher selbst, um später Schülern ein Lehrmeister zu werden, einen Lehrer gehabt?
Gregorius. Ich habe nie das Geringste davon gehört, daß er je eines anderen Schüler gewesen sei; doch die Gabe des Hl. Geistes unterliegt keinem Gesetze. Es gilt zwar im geistlichen Leben als Regel, daß keiner es wage, S. 6 Vorsteher zu sein, der nicht gelernt hat, Untergebener zu sein, oder daß einer nicht von den Untergebenen Gehorsam verlange, den er nicht selbst den Oberen zu leisten weiß. Es gibt jedoch manche, die innerlich so durch die Schule des Hl. Geistes unterwiesen werden, daß ihnen trotz des äußeren Mangels einer menschlichen Schule die Eigenschaft eines innerlichen Lehrers nicht abgeht; doch darf dieser freie Zug im Leben solcher Männer nicht von Schwachen nachgeahmt werden, damit nicht jeder wähne, er sei vom Hl. Geiste erfüllt, und es so verschmäht, eines Menschen Schüler zu sein und dafür ein Lehrer des Irrtums wird. Eine Seele aber, die des göttlichen Geistes voll ist, trägt klare Anzeichen an sich, Tugendkraft nämlich und Demut. Finden sich beide in vollkommenem Grade in einer Seele vereinigt, legen sie ohne Zweifel Zeugnis ab von der Gegenwart des Hl. Geistes. So liest man auch nichts davon, daß Johannes der Täufer einen Lehrmeister gehabt habe. Auch hat die Wahrheit selbst, die in leiblicher Gegenwart die Apostel lehrte, ihn dem Leibe nach nicht den Jüngern beigesellt; sie unterwies ihn vielmehr auf innerliche Art und überließ ihn sozusagen nach außen seiner Freiheit. So wurde Moses in der Wüste von einem Engel geleitet und erhielt von ihm, nicht von einem Menschen, seine Weisung.3 Doch soll, wie gesagt, dies für die Schwachen ein Gegenstand der Verehrung, nicht der Nachahmung sein.
Petrus. Was du sagst, ist sehr schön; aber bitte, sage mir auch, ob dieser große Abt auch einen Schüler hinterließ, der in seine Fußstapfen trat! S. 7