XVI. Kapitel: Von dem Mönch Martinus im marsischen Gebirgsland
Es ist noch nicht lange her, daß in Kampanien ein sehr ehrwürdiger Mann namens Martinus1 in dem marsischen2 Gebirgsland ein Einsiedlerleben führte; er war viele Jahre hindurch in einer sehr engen Höhle eingeschlossen; viele von uns haben ihn gekannt und waren Augenzeugen seiner Taten. Vieles von ihm habe ich von meinem Vorgänger hochseligen Angedenkens, dem Papste Pelagius,3 und von andern sehr gewissenhaften Männern erfahren. Sein erstes Wunder war dies, daß, sobald er eine Höhle des genannten Gebirges bezogen hatte, aus dem Felsen, der durch eine Einbuchtung die enge Höhle bildete, Wasser herabzuträufeln anfing. Es war gerade so viel, daß es dem Diener Gottes Martinus für den täglichen Bedarf ausreichte, weder zu viel noch zu wenig. Hierdurch zeigte der allmächtige Gott, wie sehr er für seinen Diener besorgt war, da er ihm nach einem alten Wunder4 in der Einsamkeit Trank aus dem harten Felsen spendete. Aber der alte Feind S. 138 des Menschengeschlechtes war ihm neidisch ob seiner Macht und suchte ihn mit einer oft gebrauchten List aus seiner Höhle zu vertreiben. Denn er fuhr in sein Lieblingstier, die Schlange, und wollte ihn dadurch erschrecken und aus seiner Behausung verjagen. Es kam also eine Schlange in die Höhle, ganz allein zu dem einsamen Mann; wenn er betete, streckte sie sich vor ihm aus, wenn er sich zur Ruhe begab, legte sie sich neben ihn. Aber der heilige Mann ließ sich dadurch keine Furcht einjagen; er hielt ihr die Hand oder den Fuß hin und sagte: „Hast du die Erlaubnis bekommen, zu beißen, so tue es, ich wehre es nicht.” Nachdem das drei Jahre lang ununterbrochen so fortgegangen war, wurde der Urfeind, der sich durch die große Starkmut besiegt sah, eines Tages wütend und die Schlange stürzte sich über den steilen Berghang in den Abgrund, dabei das ganze Gehölz dort durch eine Flamme, die von ihr ausging, in Brand steckend. Dadurch, daß sie die ganze Seite des Berges anbrannte, mußte sie, gezwungen von dem allmächtigen Gott, zeigen, wie große Tugend derjenige besaß, von dem sie besiegt wurde und vor dem sie dann auf und davon ging.
Petrus. Mich schaudert’s, wenn ich das höre.
Gregorius. Dieser Mann von ehrwürdigem Lebenswandel beschloß schon zu Beginn seines zurückgezogenen Lebens, keine Frauensperson mehr anzusehen, nicht aus Verachtung gegen das weibliche Geschlecht, sondern weil er vom Anblick einer schönen Gestalt eine Anfechtung für sich befürchtete. Davon hörte ein Weib; keck ging es auf den Berg und drang unverschämt bis zu seiner Höhle. Er erblickte es schon aus einiger Entfernung, und als er sah, daß jemand in weiblicher Kleidung heraufkomme, fing er an zu beten, legte das Gesicht auf den Boden und blieb solange liegen, bis die freche Person müde wurde und von seinem Zellenfenster wegging. Noch am selben Tage, alsbald nachdem sie vom Berg heruntergekommen war, starb sie zur Strafe, S. 139 so daß aus ihrem Tode zu ersehen war, wie sehr es dem allmächtigen Gott mißfiel, daß sie seinen Diener durch ein böses Unterfangen betrübte.
Ein anderes Mal strömte viel Volk der religiösen Erbauung halber zu diesem Mann herbei. Da der Weg, der das Volk den steilen Berg entlang zu seiner Zelle hinaufgeleitete, sehr schmal war, tat ein kleiner Knabe einen Fehltritt, fiel den Berg hinab und stürzte bis ins Tal, das unten am Fuße des Berges in der Tiefe sichtbar war. Dort ist nämlich der Berg so hoch, daß die großen Bäume, die im Tale stehen, sich wie Sträucher ausnehmen, wenn man vom Berge herabschaut. Alle, die hinaufstiegen, erschraken und suchten mit großer Besorgnis nach dem Leichnam des abgestürzten Knaben. Denn wer hätte anders geglaubt, als daß er sich zu Tode gefallen habe? Oder wer hätte denken können, daß sein Leib unversehrt auf dem Boden ankommen würde, da er doch durch die überall vorstehenden Felszacken in Stücke zerrissen werden konnte? Aber man fand den gesuchten Knaben im Tale nicht nur lebend, sondern ganz unverletzt. Da erkannten es alle klar, daß der Knabe sich deswegen nicht verletzen konnte, weil ihn beim Fallen das Gebet des Martinus trug.
Oberhalb seiner Höhle ragte ein großer Stein hervor, der nur mit einem kleinen Teile noch mit dem Berge zusammenzuhängen schien, so daß er, gerade über der Zelle des Martinus schwebend, täglich zu fallen und diesen im Sturze zu erschlagen drohte. Deshalb kam Maskator, der Enkel des erlauchten Armentarius, mit einer großen Anzahl Bauern und bat den Mann Gottes, er möge aus der Höhle herausgehen, damit er den sturzdrohenden Stein aus dem Berge nehme und der Diener Gottes wieder ruhig in seiner Höhle wohnen könne. Der Mann Gottes wollte darauf durchaus nicht eingehen und befahl ihm, er solle nur tun, was er könne, während er sich selbst in den hinteren Teil seiner Zelte zurückzog. Es unterlag keinem Zweifel, daß der Fels, wenn S. 140 er ins Fallen kam, auch die Höhle zerstören und den Martinus erschlagen würde. Während nun die vielen Leute sich bemühten, den ungeheuren überhängenden Stein, wenn möglich, ohne Gefahr für den Mann Gottes zu entfernen, geschah vor aller Augen etwas ganz Wunderbares. Der Stein nämlich, den sie entfernen wollten, gab plötzlich nach, machte, damit er das Dach von des Martinus Höhle nicht berührte, einen Sprung und fiel in großer Entfernung zu Boden, gerade als ob er eine Beschädigung des Mannes Gottes vermeiden wollte. Wer treu daran glaubt, daß alles durch die göttliche Vorsehung geordnet wird, der erkennt, daß dies auf Befehl des allmächtigen Gottes durch Engelshand geschah.
Zu Anfang, als er sich in diese gebirgige Gegend begab und noch nicht in einer geschlossenen Höhle wohnte, legte er sich eine eiserne Kelle an den Fuß und befestigte sie mit dem andern Ende an einen Felsen, damit er nur soweit gehen konnte, als die Länge der Kette reichte. Als dies der ehrwürdige Mann Benediktus hörte, dessen ich oben gedachte,5 ließ er ihm durch einen seiner Schüler sagen: „Wenn du ein Diener Christi bist, so fessle dich nicht eine Kette aus Eisen, sondern die Kette Christi!” Auf dieses Wort hin legte Martinus sogleich seine Fessel ab, setzte aber hernach den freien Fuß nie über jenen Punkt hinaus, bis zu welchem er ihn gefesselt bewegen konnte, und beschränkte sich ohne Kette auf denselben Raum, auf welchen er vorher durch die Kette angewiesen war. Als er sich später ganz in die dortige Höhle zurückzog, bekam er auch Schüler, die abseits von seiner Höhle wohnten und das Wasser für ihren Lebensbedarf aus einem Ziehbrunnen schöpften. Das Seil aber, an welchem der Eimer zum Wasserschöpfen hing, brach oftmals entzwei; darum baten sie den Mann Gottes um die Kette, die er von seinem Fuße abgenommen hatte, banden sie an das Seil und befestigten den Eimer daran. Und von der Zeit an riß das Seil S. 141 nicht mehr, obwohl es täglich naß wurde. Denn weil das Seil die Kette des Mannes Gottes berührte, empfing es Eisenkraft, um das Wasser auszuhallen.
Petrus. Diese Dinge gefallen mir, weil sie wunderbar sind und besonders, weil sie sich erst zugetragen haben.