Traktat VI. Über das Schriftwort: „Wenn er das Reich Gott und dem Vater übergeben wird.“1
1. Die göttliche Schrift widerspricht sich nicht, wenn sie vom Sohne Gottes spricht, sondern sie unterscheidet mit der dabei gebotenen Abwägung zwischen Gott und dem Menschen, den er angenommen hat. Würde sie ihn beständig nur als Gott bezeichnen, so hätten sein Leiden und seine Auferstehung keine Berechtigung mehr, und Christus hätte für die Welt nichts geleistet. Würde sie ihn nur als Mensch bezeichnen, so wie einige glauben, daß er im Schöße der Jungfrau seinen Anfang genommen habe,2 wo bliebe da noch eine Hoffnung auf eine zukünftige Seligkeit für den Gläubigen, nachdem doch geschrieben steht: „Verflucht ist der Mensch, der seine Hoffnung auf einen Menschen setzt?"3 Wo sie ihn nur als Gott bezeichnet, spricht sie in der Genesis: „Und Gott schuf S. 211 den Menschen nach seinem Bilde und Gleichnisse“4 und in den Psalmen: „Gott aber unser König hat von jeher Heil gewirkt inmitten der Erde."5 Und an einer anderen Stelle: „Dein Thron ist gegründet von jeher, von Ewigkeit her bist du“6 Wenn sie aber von demjenigen spricht, in dem Gott und Mensch gemischt sind, 7 fährt sie weiter: „Saget der Tochter Sions: Dein König kommt zu dir, gerecht und als Heiland, sanftmütig, sitzend auf einer jungen Eselin“8 Und wiederum: „Erhöhet eure Tore, ihr Fürsten, hoch wölbet euch, ihr ewigen Tore, und einziehen wird der König der Herrlichkeit."9 Und wiederum sprechen die Magier: „Wo ist derjenige, der geboren ist als König der Juden?"10
2. Dieser (in dem sich die Gottheit mit der Menschheit vermischt), meine Brüder, ist es, von dem die Propheten vorausgesagt, daß er kommen werde; der dem Fleische nach in der Zeit geboren ward; der da erhaben ist in der Höhe, in Niedrigkeit auf der Erde; der Vater der Zeiten,11 der Sohn der Jungfrau; der da für sich unsterblich ist, für die Menschheit aber sterben will; der den Tod kostet, um den Tod zu überwinden; der in die Unterwelt hinabsteigt, um die Toten lebendig von dort zurückzubringen. Er ist der Eingeborene, indem er aus dem Vater vor der Entstehung der Welt hervorging; er ist „der Erstgeborene von den Toten", wie der Apostel sagt,12 nachdem viele Völker gestorben waren. Er ist es, dem „gegeben ist alle Gewalt im Himmel und auf Erden",13 und zwar ist seinem Namen eine neue Gewalt gegeben,14 wie er selbst sagt: „Ich habe dich verherrlicht auf Erden: ich habe das Werk vollbracht, das du mir S. 212 zu verrichten gegeben. Verherrliche mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich hatte von Anfang an, bevor die Welt ward“15 Und bei der Auferstehung spricht er: „Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden."16 Dieser ist es, der, nur Gott, vom Himmel herabstieg, mit dem Fleisch bekleidet zum Himmel hinaufstieg. Und dieser ist es, sage ich, von dem Paulus spricht: „Wer das Reich empfängt, regiert, und er wird es Gott und dem Vater übergeben“,17 und so weiter.
3. Mein Christ, warum nimmst du daran Anstoß und warum beurteilst du vom natürlichen Standpunkt aus die göttlichen Geheimnisse der Heilsordnung? Wenn du deshalb vom Sohne geringer denkst, weil er das Reich dem Vater übergeben wird, so ist es noch eine größere Geringschätzung des Vaters, wenn er eine Zeitlang ohne Reich ist. Dazu kommt, daß wir täglich beten: „Zukomme uns das Reich des Vaters":18 und wir hoffen: auch des Sohnes!19 Wenn nun beide ohne Herrschaft sind,20 dann gibt es für die Zeitlichkeit keine solche. Wenn aber auch nur einen Augenblick die Regierung Gottes aufhört, dann ist es um die Welt und um die ganze Existenz der Welt geschehen. Wenn aber, wie schon die Vernunft S. 213 deutlich sagt, diese Herrschaft (des Vaters und des Sohnes) schlechterdings nicht aufhören kann, so ist dieselbe vom Schöpfer des Gesetzes selbst dem Menschen, den Gott angenommen hat, und seinen hierfür bestimmten Gerechten überwiesen, aber nicht Gott und nicht dem ewigen Herrscher;21 um so weniger, da es vom letzteren im Evangelium heißt: „Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird herrschen über das Haus Jakobs in Ewigkeit und seines Reiches wird kein Ende sein."22 Und ähnlich sagt Salomo, wenn er von dessen Dienern spricht: „Und wenn sie auch vor den Menschen Qualen erduldet haben, so ist doch ihre Hoffnung voll der Unsterblichkeit; und nachdem sie ein wenig gelitten haben, wird ihnen in vielem Gutes zuteil. Denn Gott hat sie geprüft und seiner würdig befunden. Wie Gold im Feuerofen hat er sie erprobt, und wie ein Brandopfer hat er sie angenommen, und zu seiner Zeit wird er sie heimsuchen. Sie werden zu Gerichte sitzen über die Nationen, und sie werden herrschen über die Völker, und der Herr wird ihr König sein in Ewigkeit."23 Was ist nun zu sagen? Wenn er König sein wird in Ewigkeit, dann hat Paulus geirrt. Wenn er aber das Reich übergeben wird, so täuschen sich die Letztgenannten. Dem ist nicht so. Da gibt es keinen Irrtum, keinen Gegensatz. Paulus spricht von dem zeitlichen Reiche des Menschen, den Gott angenommen hat, in welchem er kommen und richten wird die Lebendigen und die Toten.24Das läßt der ganze gelesene Abschnitt25 S. 214 erkennen, der da klar darlegt, daß Christus mit seinen Helligen herrschen muß, solang bis alle Herrschaft, alle Obrigkeit, alle Kraft und alle Gewalt gebrochen, seine Feinde unter seine Füße gelegt und der feindliche Tod vernichtet sei. Die Äußerungen der andern aber beziehen sich auf die Herrschergewalt, in deren Besitz der Sohn von Ewigkeit her und für die Ewigkeit weder ein Reich vom Vater empfangen noch ein solches abgeben wird. Denn er hat immer mit dem Vater regiert, wie er selbst nach Johannes sagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“.26 Noch klarer hat das Paulus ausgedrückt in den Worten: "Das müßt ihr aber wissen, daß kein Unzüchtiger oder Unreiner oder Betrüger, das heißt ein Götzendiener, einen Erbanteil haben wird im Reiche Gottes und Christi":27 er hat damit zum Ausdruck gebracht, daß das Reich des Vaters und des Sohnes eines sei.
4. Mit Recht also wird der Sohn sein Reich übergeben, er, der in seinen Unterweisungen gesagt, daß ein geteiltes Reich keinen Bestand habe,28 Das ist aber nicht so zu verstehen, Brüder, daß damit der Vater etwas empfängt, was er nicht hat, der Sohn durch die Übergabe etwas verliert, was er bisher besaß: denn der Vater besitzt das schon, was er erhalten wird; und der Sohn braucht das nicht zu vermissen, was er übergeben wird. Der Vater besitzt es ganz, und der Sohn besitzt es ganz: es ist der Besitz von einem, was beiden zugehört; und was einer besitzt, gehört auch jedem einzeln. Denn so spricht der Herr: „Alles, was der Vater hat, ist auch mein;“29 und wiederum: „Vater, alles, was mein ist, ist dein, und alles, was dein ist, ist mein,"30Denn der Vater bleibt im Sohne, und der Sohn bleibt im Vater; und er ist dem Vater Untertan, aber nur durch seine ehrfürchtige Gesinnung, nicht durch eine dienende Stellung; aus Liebe, nicht aus Zwang; in einer für ihn ehrenvollen Weise, und zu- S. 215 gleich wird durch ihn der Vater geehrt.31 Daher sagt er:„Ich und der Vater sind eins."32 So ist denn, wie gesagt, der Sohn dem Vater Untertan in einem Gehorsam, der nicht durch eine niedrigere Stellung bedingt ist, sondern aus ehrfurchtsvoller Gesinnung hervorgeht, und er behält mit ihm den einen Besitz des ursprünglichen ewigen Reiches, die eine Wesenheit der gleichen Ewigkeit und der gleichen Allmacht, die eine Gleichheit, die eine Macht der erhabenen Majestät in dem einen Lichte, die eine Würde bei. Verringert man den Sohn in irgendetwas, so bedeutet das eine Geringschätzung des Vaters, dessen ganze Fülle er hat. Es gibt in ihm nichts, was geringer ist; denn ebenso wie der Vater kann er nicht mehr und nicht weniger haben; denn der eine ist in die Fülle des andern eingegossen, so daß Gott alles in allem ist, gepriesen als Vater im Sohne, als Sohn im Vater mit dem Heiligen Geiste. Amen.
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Diese Stelle 1 Kor, 15, 24 ward in den trinitarischen Streitigkeiten viel erörtert. Namentlich verwertete sie Marcellus von Ancyra zur Stütze seiner Lehre. Nach ihm war Gott von Ewigkeit her schlechtweg Einheit. Der Logos war in ihm eingeschlossen. Er trat aber zum Zwecke der Weltschöpfung aus dem Vater heraus und betätigte sich als wirkende göttliche Kraft; zum Zweck der Menschwerdung erschien er als Sohn im Fleische. Ähnlich ist der Geist von Ewigkeit her in Gott und geht bei der Geistessendung von dem Vater und dem auferstandenen Sohne aus. Zuletzt wird aber Christus wiedererscheinen, sich alles unterwerfen und sodann sein Reich dem Vater übergeben. Dann werden der Logos und der Hl. Geist wieder ganz mit dem Vater vereinigt sein. Zeno scheint im Anschluß an die Lesung des Abschnittes die Predigt gehalten zu haben; vgl. Kap 3: sicut lectio universa testatur, quae prae-dicat Christum oportere regnare cum sanetis suis. ↩
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Vermutlich gegen Paul von Samosata oder auch die Photinianer gerichtet. Vgl. Traktat II 7 und die Einleitung S.28. ↩
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Jer. 17, 5. ↩
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Gen. 1, 27. ↩
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Ps. 73, 12. ↩
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Ebd. 92, 2. ↩
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Ubi hominem mixtum, sie prosequitur. Der Ausdruck homo mixtus ist ein seit Tertullian viel gebrauchter Terminus für die Verbindung der beiden Naturen in Christus. ↩
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Zach. 9, 9; vgl. Js. 62, 11. ↩
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Ps. 23, 7. ↩
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Matth. 2, 2. ↩
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Vgl. Js. 9, 6. ↩
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Kol. 1, 18. ↩
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Matth. 28, 18. ↩
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Nach der Lesart der Ballerini: Hie est, cui data est potestas in caelo et in terra, nomini eius nova a Deo suo. Die Lesart Giuliaris: ... homini eius nova a Deo suo, die sich auch in einigen älteren Ausgaben findet, scheint handschriftlich nicht begründet und widerspricht auch dem Sinne, da es sich um den homo mixtus handelt. ↩
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Joh. 17, 4. 5. ↩
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Matth. 11, 27. ↩
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1 Kor. 15, 24. ↩
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Matth. 6, 10. ↩
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Vgl. 2 Petr. 1, 11. ↩
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Die nun folgenden Ausführungen wollen besagen: Nach dem angeführten Gebete liegt sowohl das Reich des Vaters als auch das des Sohnes erst in der Zukunft. Demnach ist die gegenwärtige Welt ohne Herrschaft Gottes und damit dem Untergang geweiht. Das ist nicht möglich. Vielmehr ist die Herrschaft Gottes, und zwar des Vaters wie des mit ihm vereinigten Sohnes, allezeit vorhanden gewesen und vorhanden. Bei der Stelle von der Abgabe des Reiches des Sohnes an den Vater kann es sich nur darum handein, daß nach dem Heilsplane Christus als Mensch (nicht als Gott) das Reich übergeben wurde, das er nach Vollendung der Weltzeit wieder zurückgibt. ↩
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So nach der Lesart Giuliaris: At si... cessare nullo pacto potest varietas ista regni, a legis conditore homini a Deo assumpto, iustisque eius est deputata dispositis, non Deo. Non sempiterno rectori. Etwas anders ist der Sinn nach dem Texte der Ballerini: At si... cessare nullo pacto potest varietas ista regni a legis conditore; homini a Deo assumpto iustisque eius est deputata rebus dispositis, non Deo, non sempiterno rectori. Die Stelle ist verdorben. ↩
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Luk. 1, 32. ↩
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Weish. 3, 4-6. 8. ↩
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2 Tim. 4, 1. Vgl. Apostolisches Symbol. ↩
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lectio universa testatur. 1 Kor. 15, 24-28. ↩
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Joh. 18, 36. ↩
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Eph. 5, 5. ↩
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Matth. 12, 25; Luk. 11, 17. 18. ↩
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Joh. 16, 15. ↩
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Ebd. 17, 10. ↩
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Nach der Lesart der Ballerini: quia Pater in Filio et Filius manet in Patre, cui affectu, non conditione, caritate, non necessitate, decore subiieitur, per quem Pater semper honoratur. Giuliari ergänzt: ... non uecessitate, decore, non deminutione subiieitur, per quem... Doch ist die Ergänzung handschriftlich nicht begründet. ↩
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Joh. 10, 30. ↩