Dritter Artikel. Es giebt mehrere Tugenden, die sich mit den Thätigkeiten befassen.
a) Es scheint nur eine derartige Tugend zu geben. Denn: I. Die Geradheit aller äußeren Thätigkeiten scheint der Gerechtigkeit anzugehören. Die Gerechtigkeit aber ist eine einige Tugend. II. Der durchgreifendste Unterschied scheint hier obzuwalten zwischen den Thätigkeiten, die auf das Wohl einer Menge, und denen, die auf das Wohl nur eines einzigen gerichtet sind. Doch bewirkt dieser Unterschied nicht zwei verschiedene Tugenden nach 5 Ethic. 1.: „Die öffentliche Gerechtigkeit, welche die Akte des Menschen regelt zum Gemeinbesten hin, ist nicht unterschieden von jener Tugend, welche die Thätigkeit des Menschen regelt nach einem einzigen anderen hin; außer vermöge der Auffassung der Vernunft.“ Also verursacht um so weniger eine andere Verschiedenheit irgend welchen thatsächlich gegebenen Unterschied in den Tugenden nach dieser Seite hin. III.Wenn es verschiedene moralische Tugenden gäbe mit Rücksicht auf die verschiedenen Thätigkeiten, so müßte gemäß der Verschiedenheit der Thätigkeiten der Unterschied sein zwischen den moralischen Tugenden. Dies ist aber falsch. Denn zur einen Gerechtigkeit gehört es, in den verschiedenen Arten von Ein- und Austausch die rechte Richtschnur aufzustellen; und ebenso in den Verteilungen, wie 5 Ethic. 2. gesagt wird. Auf der anderen Seite ist die religio, die Gottesverehrung eine verschiedene Tugend von der pietas, der Ergebenheit an berechtigte Interessen. Jede von beiden Tugenden aber befaßt sich mit Thätigkeiten.
b) Ich antworte; alle moralischen Tugenden, welche mit den Thätigkeiten sich beschäftigen, kommen überein in einem gewissen allgemeinen Charakter der Gerechtigkeit; die da ihre Richtschnur hat in dem, was man anderen gegenüber schuldet. Sie unterscheiden sich jedoch nach besonderen, .eigenen Gründen. Der Grund davon ist, daß in dergleichen äußeren Thätigkeiten die Ordnung der Vernunft aufgestellt wird, nicht gemäß dem Verhältnisse zur inneren Neigung oder zum inneren Verhalten des Menschen, sondern gemäß dem Verhalten der äußeren Sache in sich selbst; gemäß dem nämlich daß nach dieser objektiven, vom Menschen unabhängigen Sachlage beurteilt wird der Charakter der Schuld, von wo aus hergestellt wird das Wesen und die Natur der Gerechtigkeit. Denn der Gerechtigkeit entspricht es, daß jemand die Schuld abträgt. Alle solche Tugenden also, welche sich mit dergleichen Thätigkeiten befassen, haben den Charakter der Gerechtigkeit. Etwas Anderes aber wird geschuldet dem auf gleicher Stufe Stehenden und etwas Anderes dem Oberen und etwas Anderes dem Untergebenen; und wieder anders verhält es sich, wenn ein Vertrag oder ein Versprechen oder eine Wohlthat vorliegt. Und nach diesen verschiedenen Seiten hin werden Verschiedene Tugenden aufgestellt; nämlich die religio, vermittelst deren Gott gegenüber die Schuld gelöst wird; die pietas gegenüber den Eltern und dem Vaterlande; die gratia oder der Dank gegenüber den Wohlthätern u. s. w.
c) I. Die Gerechtigkeit im engeren Sinne ist eine besondere Tugend; sie beachtet die vollendete Natur der Schuld, die da vollgültig erstattet werden kann. Im weiteren Sinne aber besagt sie jegliche Erstattung dessen, was man schuldet. II. Die Gerechtigkeit, welche das Gemeinbeste berücksichtigt, ist verschieden von der Gerechtigkeit, welche zum Wohle eines einzelnen Beziehung hat; weshalb das „Gemeinrecht“ vom „Privatrecht“ unterschieden wird. Die Gerechtigkeit aber, welche den Menschen zum gemeinen Besten hin regelt, ist eine allgemeine Tugend auf Grund des Befehlens; weil sie die Thätigkeit aller anderen diesbezüglichen Tugenden regelt zu ihrem Zwecke hin, nämlich zum gemeinen Besten. Die besondere Tugend aber hat, insofern sie von solcher Gerechtigkeit geordnet wird, auch den Namen „Gerechtigkeit“ erhalten. Und so ist die Tugend als solche von der dem Gemeinwohle dienenden öffentlichen Gerechtigkeit nur durch die Auffassung der Vernunft unterschieden; wie ebenso sich unterscheidet die Tugend, insofern sie durch und von sich selbst aus wirkt, von der Tugend, insofern sie auf den Befehl eines anderen wirkt. III. In allen jenen Tauschgeschäften, welche zur Gerechtigkeit im engeren Sinne gehören, ist immer die nämliche Natur der Schuld; und somit besteht da nur eine einzige besondere Tugend. Die verteilende Gerechtigkeit aber ist wohl eine andere Tugend wie die den Tausch leitende; doch siehe II., II. Kap. 61.