Zweiter Artikel. Die Kühnheit steht im Gegensatze zur Stärke.
a) Dagegen spricht: I. Das Übermaß in der Kühnheit scheint aus der Vermessenheit der Seele hervorzugehen. Die Vermessenheit aber steht entgegen dem Stolze und nicht der Stärke. II. Die Kühnheit scheint nur Sünde zu sein, wenn aus ihr ein Schaden dem kühnen oder einem anderen erwächst. Das gehört aber zur Ungerechtigkeit. III. Die Furchtsamkeit steht der Stärke gegenüber wegen des „zuviel“ an Furcht in ihr; und deshalb giebt es noch eine andere Sünde, die der Stärke entgegentritt wegen des „zuwenig“ an Furcht in ihr. Steht also die Kühnheit gegenüber der Stärke wegen des „zu Kühnen“; so müßte es eine andere Sünde geben im Gegensatze zur Stärke wegen des „zu wenig Kühnen“. Eine solche aber giebt es nicht. Also steht auch nicht die Kühnheit zur Stärke im Gegensatze. Auf der anderen Seite stellt Aristoteles (2 et 3 Ethic. ult.) die Kühnheit in Gegensatz zur Stärke.
b) Ich antworte, die moralische Tugend müsse im Bereiche dessen, worauf sie geht, Maß und Grenze einhalten. Wo also ein Fehler etwas Maßloses enthält rücksichtlich des Gegenstandes einer Tugend, da steht er dieser Tugend entgegen wie das Maßlose dem Gemessenen. Die Kühnheit aber als Fehler schließt ein Übermaß jener Leidenschaft ein, welche Kühnheit heißt. Also offenbar steht sie gegenüber der Tugend der Stärke, die sich mit der Furcht und mit der Kühnheit als regelnde und messende Richtschnur befaßt.
c) I. Die Vermessenheit ist die Ursache der Kühnheit; hier aber wird gefragt, welcher Tugend die Kühnheit als Fehler ihrem inneren Wesen nach entgegengesetzt sei. II. Auch die Wirkung bestimmt ebensowenig wie die Ursache den Gegensatz, in dem eine Tugend oder ein Laster dem Wesen nach steht. Der Schaden aber, der da erwähnt wird, ist eine Wirkung der Kühnheit. III. Die Bewegung der Kühnheit richtet sich als angreifende auf das dem Menschen Entgegengesetzte, wozu die Natur zwar hinneigt, aber nur insoweit eine solche Neigung gehindert wird durch die Furcht, von demselben her Schaden zu leiden. Der Fehler also, welcher in der übermäßigen Kühnheit besteht, hat als gegenüberstehenden Mangel nur die Furchtsamkeit. Solche Kühnheit aber ist nicht immer nur in Begleitung eines solchen Mangels, nämlich der Furchtsamkeit, sondern sie geht auch demselben bisweilen voran. Weil „die kühnen voreilig sind, fliegen sie den Gefahren voran und zur Zeit der Gefahr weichen sie zurück;“ nämlich vor Furcht.