Zur Einführung
S. 5Die Zeit liegt nicht Ferne, da man den Berichten über die Christenverfolgungen im heidnischen Römerreich weitgehendes Mißtrauen entgegenbrachte. Ein auf seine Humanität stolzes Geschlecht wollte es nicht wahrhaben, daß ein Kulturvolk Märtyrer in solcher Zahl und auf so grausame Weise geschaffen habe. Die letzten Jahrzehnte sollten diesen Wahn unerbittlich ernüchtern. Sie stellten uns vor die bittere Tatsache, daß ein heidnisches Staats und Lebensideal bereit ist, ohne Wimperzucken Millionen von Menschenleben hartem Leid und grausem Tod auszuliefern. Die Wucht solchen Geschehens mußte bei den Opfern wie bei den Zeugen dieser neuzeitlichen Martyrien ein über alle Katakombenromantik hinausgehendes Bewußtsein der Schicksalsgemeinschaft mit den Blutzeugen der römischen Christenverfolgungen schalfen.
Deren blutigste fand unter Kaiser Diokletian (284-305) und seinen Mitregenten statt. Sie erstreckte sich systematisch auf das ganze Röpmerreich und erinnert hierin doppelt an die Verfolgung unserer Tage. Ihre Seele war das Bestreben, den heidnisch-römischen Staat von allen «unzuverlässigen» Elementen zu säubern. Über den Verlauf sind wir durch die beiden Kirchenschriftsteller Eusebius und Laktantius unterrichtet. Eusebius war Zeitgenosse der Ereignisse und überliefert uns Einzelheiten über die Verfolgung im östlichen Teil des Römischen Reiches, war er doch Bischof von Cäsarea in Palastina. Über die Ausdehnung der Verfolgung berichtet er unter anderm: «Wer hätte da die Menge derer zählen können, welche in jeder Provinz, vor allem in Afrika, Mauretanien, in der Thebais und in Ägypten, den Zeugentod starben? Auch Leute, S. 6die aus letzterem Lande in fremde Städte und Provinzen sich begeben hatten, zeichneten sich durch ihre Martyrien aus.»
Christen aus dem Stromland des Nil als Märtyrer in fremden Städten und Provinzen? Schade, daß Eusebius erwartete, Augenzeugen möchten in jeder Provinz diese Verfolgung in ihren Einzelheiten darstellen. Auch ein Laktantius tat es nicht, nennt er doch keinen einzigen Märtyrer mit Namen. Er hielt es wohl für unnötig, weil die Ereignisse allbekannt waren. Offensichtliche Tatsachen werden, weil selbstverständlich, nicht selten von den Geschichtsschreibern übergangen und bleiben der mündlichen Überlieferung anvertraut. Aus dieser wußte, keine hundertfünfzig Jahre nach der Verfolgung, Bischof Eucherius von Lyon zu berichten, daß bei Acaunum im Wallis eine Thebaïsche Legion den Martertod erlitten habe. Und Eucherius ist ein hochgebildeter Mann senatorischen Geblüts, Glied jener gallisch-romischen Gesellschaftsschicht, die das antike Kulturerbe durch die Wirren der Völkerwanderung bis in die Reiche der Merowinger und der Karolinger hinüberrettete. Er weiß Gewährsleute zu nennen und zeigt sich mit der geographischen Lage der Marterstätte gut vertraut. Die allgemeine Geschichte fügt bestätigend bei, daß es zur Zeit Diokletians und Maximians im bedenklich überfremdeten Römerheer Thebäische Legionen gab. Wenn Eucherius deren Stärke mit sechstausendsechshundert Mann angibt, so bezeichnet er dies lediglich als Folgerung aus dem Sollbestand einer Legion. Heute weiß die Forschung zu melden, daß die Zerlegung der alten Legionen in die neuen Klein legionen ( von etwa tausend Mann) damals zum Abschluß kam. Als Ursache der Hinrichtung dieser Truppe nennt Eucherius Meuterei. Daß Söhne eines kulturstolzen, erst S. 7wieder unterworfenen, bereits tiefchristlichen Volkes den Gehorsam verweigerten, wenn sie zur Liquidierung von Glaubensgenossen eingesetzt wurden, ist ebenso begreiflich, wie es selbstverständlich ist, daß alsdann das Kriegsrecht in Aktion trat und ihnen die Köpfe vor die Füße legte, ohne viel Federlesens und ohne ängstliches Bangen, es möchten ihrer allzuviele sein. Als militärische Exekution, die zudem an «Fremdenlegionären» vorgenommen wurde, brauchte die Hinrichtung keine großn Wellen in der Öffentlichkeit zu werfen, ja sie kann den Augen der Zivilbevölkerung weitgehend entzogen worden sein. Kommt es doch noch heute vor, daß Massengräber von Hingerichteten «entdeckt» werden, deren Tod gar nicht weit zurückliegt.
Ort und Zeit des Ereignisses unterstreichen dessen Glaubwürdigkeit. Tarnaiae oder Acaunum, der Hauptort der Nantuaten und vielleicht identisch mit Drusomagus, war und ist eine Talsperre von militärischer Bedeutung (Fort St-Maurice), wie gemacht als sicherer Hort für Ausfälle zur Säuberung des Genferseegebietes von Christenmenschen. Wohl nicht umsonst lebt in zahlreichen westschweizerischen Ortsnamen «martyretum» fort, mit dem man Gräberfelder bezeichnete. Gesäubert werden mußte in dieser Zone, lag sie doch unmittelbar hinter der tief gestaffelten Verteidigungslinie gegen die in stets neuen Wellen heranstürmenden Alemannen. Da konnte man keine Leute brauchen, die als Fünfte Kolonne in Frage zu kommen schienen.
Als höchster einheimischer Of.fizier dieser Kolonialtruppe wird Mauritius genannt. Mit seinem Namen verband sich für die Zukunft der Name des Grabortes, der nun als dritte oder gar vierte Bezeichnung die von «St-Maurice» erhielt. Ausgrabungen haben bestätigt, daß schon um 360 – 370 S. 8daselbst eine Basilika stand. Neubauten um 520 beweisen, daß es sich um ein Märtyrergrab handelte. Die ganze Anlage erhebt sich über dem ehemaligen römischen Forum. Im Jahre 515 wurde daselbst eine neue Abtei eingeweiht, in der Chöre aus fünf verschiedenen Klöstern sich in ununterbrochenes Gotteslob teilten. Das Grab der Blutzeugen wurde zu einem Nationalheiligtum der Burgunder und einem der besuchtesten Wallfahrtsorte des Mittelalters. Noch auf dem Boden des alten Römerreiches gewachsen, ergriff die Verehrung der Thebäischen Legion und ihres Führers Herz und Gemüt der Träiger des neuen Römischen Reiches Deutscher Nation, dessen Kaiser vor dem Mauritiusaltar der Peterskirche in Rom gesalbt wurde, wobei Schwert, Lanze und Sporen «des heiligen Mauritius» rituelle Verwendung fanden. Bischöfe, Fürsten und Mönche wetteiferten mit den Rittern in der Verehrung des Heiligen. Die Zahl der ihm geweihten Kirchen und Altäre ist gewaltig, gibt es doch allein in Frankreich noch heute sechshundertfünfzig Mauritiuspatrozinien. Sein und seiner Waffengrfährten Fest wird von der römischen Kirche am 22. September gefeiert.
Ein Beweis für die große Reichweite der Verehrung der Thebäischen Legion und wohl auch für den bedeutenden Umfang des ihr zugrunde liegenden Blutbades ist die Verehrung einzelner Glieder und ganzer Gruppen derselben an verschiedenen Stationen der römischen Heeresstraße von Oberitalien bis an den Niederrhein. Schon von Bischof Eucherius und auch vom Chronisten Fredegar (7. Jahrhundert) bezeugt ist die Verehrung von Ursus und Viktor im heutigen Solothurn, dem römischen Kastell Salodurum, das an der helvetischen Hauptstraße lag und zur Zeit der Alemanneneinfälle unter Diokletian neue Bedeutung erhielt. Die Stadt lag im später burgundischen Raum und S. 9gehörte bis zum Jahre 1828 zur Diözese Lausanne. Dieser Umstand führte dazu, daß die Reliquien des heiligen Viktor schon im 5. Jahrhundert in die Residenzstadt Genf übertragen wurden, wo in der Folge das Kluniazenserpriorat St. Viktor sie behütete. Der Bericht über deren Translation und Wiederauffindung gewährt lebendigen Einblick in die Heiligenverehrung des frühen Mittelalters. Solothurn selbst blieb im Besitze des heiligen Ursus und wurde zur Ursenstadt. Das Grabheiligtum ist heute Kathedralkirche des reorganisierten Bistums Basel, die beiden Heiligen sind dessen Patrone. 1hr Fest wird am 30. September begangen.
Etwas abseits der helvetischen Hauptstraße liegt die Kultstätte der Thebäischen Heiligen Felix und Regula. Es ist Zürich, das als römische Zollstation Turicum vom Lindenhof aus den Güterverkehr vom rätischen Rheintal nach dem helvetischen Windisch kontrollierte und im Festungsbereich der bedrohten Rheingrenze lag. Die beiden Stadtheiligen werden uns als Missionäre mit mönchischen Lebensgewohnheiten geschildert. Da auch das Glarnerland von ihrem Wirken zu berichten weiß, ist man versucht, von einer ägyptischen Missionsperiode in diesen Gebieten zu sprechen, ein Bild, in das sich auch die Gestalt der heiligen Verena fügt. Wenn im Gefolge römischer Legionen auch Frauenspersonen auftreten, so ist dies lediglich ein Ausdruck der Tatsache, daß es auch damals einen Frauenhilfsdienst gab. Die Verehrung des heiligen Geschwisterpaares Felix und Regula knüpft sich an ein wirkliches Erdgrab. Um diesen ideellen Mittelpunkt hatte sich im 9.Jahrhundert ein Dorf gebildet, das sich zur Stadt weitete. Deren beide Münsterkirchen wurden zu Stätten feierlichen liturgischen Kultes der beiden Thebäer. 1hr Fest feierte man am 11. September.
S. 10Der 12. Dezember 1524 machte dieser Verehrung auf Antrag Zwinglis ein gewaltsames Ende. Doch soll der verbannte Ursener Hänsli Bennet die heiligen Häupter nach Andermatt haben flüchten können.
Eine vierte Grabkirche, die in Zusammenhang mit der Thebäischen Legion gebracht wird, birgt Zurzach. Zur Romerzeit hieß es Tenedo. Seine beiden auf die diokletianisch-konstantinische Zeit deutenden Kastelle hüteten einen Rheinübergang. Heute ist dort ein Heiligtum der heiligen Verena, deren Grabmal gallo-romisches Gepräge trägt. Spätestens um 800 stand es in der Obhut eines benediktinischen Doppelklosters, das in der Folge in ein Chorherrenstift verwandelt wurde, dem man 1875 das Todesurteil gesprochen hat. Sankt Verena wird uns vorgestellt als eine Bekennerin an der Schwelle von der diokletianischen Verfolgung zur konstantinischen Entfaltung. Sie erscheint als Überbringerin kostbarsten christlichen Lebensgutes aus dem Land und der Zeit der Monchsväter am Nil. Die damit bedacht werden, sind die Alemannen, von denen man heute zu wissen glaubt, daß sie schon vor dem Zusammenbruch der Römerherrschaft sippenweise linksrheinisches Gebiet bewohnten. Was Verena ihnen gebracht haben soll, ist neben mönchischen Formen christlicher Selbstzucht vor allem das Urbild christlicher Caritas. Sie tritt vor uns als Schutzherrin der Haushälterinnen bei geistlichen Herren und als erste Barmherzige Schwester am Oberrhein. Ihr Fest wird am 1. September gefeiert.
Noch andere zur Römerzeit besiedelte Orte bewahren die Erinnerung an die Thebäische Legion. So kannten Basel Augst und Unterhallau bis zur Reformation ihre Thebäergräber, und Schotz hat noch heute seinen heiligen Nikasius. Auch das Gräberfeld der uralten Mauritiuskirche zu Pfeffikon S. 11will in diesem Zusammenhang betrachtet werden, ebenso die «heiligen Leiber» zu Nyon. Bekanntere Thebäergräber reihen sich wie Perlen an die römische Heerstrße von Ligurien bis an den Niederrhein, z. B. St.Gereon in Koln und St.Viktor in Xanten. Wie die Lage der Orte, so verdient auch die Reihenfolge der Feste Beachtung, fallen sie doch alle in die Monate August bis November. Handelt es sich um Angehörige einer Legion, die von Oberitalien an den Rhein zog: die Nachhut noch am südlichen Alpenfuß, die Hauptmacht im Wallis, die Vorhut bereits am Rhein?
Kritische Forschung glaubte, die Überlieferung von der Thebäischen Legion als historischen Roman bezeichnen zu müssen. Wenn sie es ist, dann handelt es sich um ein literarisches Kunstwerk in breit gespanntem Rahmen, das schon als solches ein kostbares Erbstück aus altchristlichcr und frühmittelalterlicher Zeit bleibt. Historische Romane haben aber ihren Tatsachenkern. Diesen Kern fein säuberlich herauszuschälen, wird in unserem Falle nie mehr gelingen. Immerhin ist die Spätantike in jüngster Zeit für den Fachwissenschafter aus einer blassen Übergangszeit zu einer Epoche von eigener Große geworden. Manche Einzelheit über das Schicksal der Thebäischen Legion, die früher gesichertem Wissen zu widersprechen schien, fügt sich heute überraschend gut in die inzwischen schärfer erkannten Zusammenhänge. Wo überkritischer Geist zweifeln zu müssen glaubte, da .fingen überdies die Steine an zu reden; denn wirkliche Gräber werden nicht in Dichterstuben ausgesonnen. Auch Märtyrergräber brauchen leider nicht erfunden zu werden, nicht einmal solche von Ägyptern in fremden Landen, wie Eusebius uns unverdächtig belehrt. Und wo sind z. B. die bekannterweise kriegstüchtigen S. 12ägyptischen Soldaten des Römerheeres zur Zeit Diokletians eher zu suchen als an der gegen die Germaneninvasion neu befestigten Rheinfront? Kein Wunder, daß die Forschung, wie auf anderen Gebieten so auch hier, zu großerer Ehrfurcht vor der Überlieferung zurückkehrt und feststellen muß, daß die einfachste Erklärung der Überlieferung in weitgehender geschichtlicher Wirklichkeit liegt.
Die folgenden Texte möchten Geist und Gemüt des Christenmenschen möglichst unmittelbar den frühesten noch erhaltenen Zeugnissen über die Thebäischen Heiligen des heute schweizerischen Raumes gegenüberstellen. Diese Texte gehoren alle noch dem ersten christlichen Jahrtausend an. Unbelastet durch spätere Legendenbildung hier und unerleuchtete Skepsis dort werden sie am ehesten das Geheimnis kundtun. Wo aber immer die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit verlaufen mag, der Ort ist und bleibt heiliges Land, dem man sich nur in Ehrfurcht nahen darf. Christliches Kulturerbe, gar köstlich anzuschauen, gleich dem Reliquiar des Thebäischen Märtyrers Candidus im Stiftsschatz von St-Maurice, das aus dem 11. Jahrhundert stammt. Ein Kopf voll tiefer innerer Verhaltenheit, der alles Individuelle weit zurückläßt, «als sollte die im Heiligen verkörperte Idee weit über die Züge seines menschlichen Daseins hinaus erhoben werden». (]. Gantner)*