7.
Wenn dich dein Glied ärgert, schneide es ab und wirf es weit von dir, wie dir befohlen ist!1 Und wiederum2. Wenn dein Auge dich zur Sünde verleitet, reiß es aus und wirf es weg von deinem Angesicht! [470] Doch daß du in Wirklichkeit deine Glieder zerstören sollst, lehrt dich der heilige Schriftsteller nicht3. Nicht sollst du etwas vernichten, was Gott geschaffen hat, denn er hat es gut geschaffen! Das Auge hat noch nie einen Ehebruch begangen, weil diese Sünde nicht zu seinen Werken gehört; noch nie hat die Hand einen Diebstahl begangen, denn sie ist ihrer Natur nach unvernünftig. Es gibt blinde Ehebrecher und verstümmelte Diebe; [480] denke ja nicht, daß die Ursache der Sünde in der Hand oder im Auge gelegen sei! Dein Geist ist es vielmehr, der etwas sieht und danach begehrt, mit ihm mußt du den Kampf aufnehmen! Die schlechte Begierlichkeit ist es, die dich ärgert, schneide sie ab und wirf sie von dir, wie dir befohlen ist! Der Tor schneidet seine Glieder ab, nicht aber entfernt er das Übel selbst. Es ist dann zwar das Glied seines Körpers abgeschnit- S. 167 ten und weggeworfen, aber die Sünde selbst ist weiter in ihm wirksam. [490] Die Glieder gehorchen deiner Seele wie Schüler und verrichten ihre Handlungen genau nach dem Vorbilde, das ihnen vorgezeichnet wird. Dem äußeren Menschen entspricht der innere; und dem äußerlich wahrnehmbaren gleicht der verborgene, geistige Mensch. Auch der innere Mensch hat Augen, [500] ebenso Ohren und Hände, wie der äußere seine Sinne hat. Schließe deine Augen und du wirst erkennen, daß nicht nur dein körperliches Auge allein sehen kann; verstopfe deine Ohren und horche auf das Toben deiner Gedanken! Siehe, ein gewaltiger Krieg tobt in dir; warum richtest du dein Ohr auf das Entfernte? Siehe, in deinem eigenen Hause sind die Diebe; wohin läufst du also hinter ihnen drein? [510] Worin haben denn deine Glieder gesündigt? Kämpfe vielmehr mit deiner Seele! Das Äußere veranlaßt dich nicht zum Sündigen, mit deinem Inneren mußt du Krieg führen. Aber auch wenn sich die Begierlichkeit vom Körper abschneiden ließe, würden doch die Verstümmler ihrer eigenen Glieder nicht die Gerechtigkeit erlangen. Schon dadurch, daß er deine Glieder beschädigt hat, hat Satan im Kampfe gesiegt, [520] so daß er gleichsam ein blutiges Zeichen davon vorzeigen kann, ein dem Schuldigen abgenommenes Beutestück. Es gibt keine entsprechende Rechtfertigung für die Sünde dessen, der verstümmelt, vernichtet und wegwirft, was Gott in seiner Weisheit geschaffen hat. Wenn dieses Vorgehen törichter Leute Gerechtigkeit wäre, warum enthält sich dessen jedermann und sieht darin etwas Ungehöriges? [530] Und was sollte denn da das bedauernswerte weibliche Geschlecht tun, das geduldig die Jungfräulichkeit bewahren müßte gegen die Gelüste des Leibes? Schon der Apostel tadelt im voraus4 jene Feiglinge, welche schonungslos gegen ihren Leib vorgehen und ihn nicht gehörig in Ehren halten. Welches von deinen Gliedern wäre nicht nach deiner Fassungskraft mit Sünden belastet, [540] daß du meinst, durch Verstümmelung eines einzigen die Sünde von deinem Leibe entfernen zu können? Deine Reden sind schlimmer als Ehebruch und, was du S. 168 hörst, schlechter als Diebstahl, und dein Mund begeht fortwährend die größten Sünden des Mordes! Deine Lippen sind wie ein gespannter Bogen und deine Worte erzeugen Zorn; schonungslos übergießest du jeden, der zu dir kommt, mit deinen Beleidigungen! [550] Deine Zunge ist härter als ein Schwert und dein Blick ist zur Sünde gerichtet! All das ist in dir verborgen und du glaubst, es sei bloß ein einziges Übel vorhanden? Wenn du ein Glied abschneiden willst, schneide lieber jenes innere ab! Statt daß du ein Glied, das nichts verbrochen hat, schlägst, schlage lieber den Urheber des Vergehens! Sei kein ungerechter Richter zwischen deinem Leib und deiner Seele! [560] Als Mittler verurteile nicht den Unschuldigen statt des Schuldigen! Jenen geistigen Menschen züchtige, der in dir ist und vor dir verborgen ist, und ergieße deinen Zorn, der dem verborgenen gebührt, nicht über den, der sichtbar vor dir steht! Du niedrig Gesinnter, du hast dein Meer ausgetrocknet, das dich durch seine Stürme bereichert hat! Du hast dir den Weg zum Gewinne abgeschnitten, denn nun hat für dich der Wettkampf aufgehört. [570] Bedrängnis ohne Belohnung wirst du nun zu erdulden haben wie ein Ungläubiger, und Krieg ohne Erfolg wirst du führen wie ein Fremdling! Der Unselige, der seine Glieder verstümmelt, wirft gleichsam seine Rüstung weg und ergibt feige seinen Willen dem Gegner. Wenn du nun das Unkraut sammelst, wird sich kein Weizen mehr darunter finden. [580] Willst du alle Gelegenheit zum Ärgernis entfernen, dann mußt du den ganzen Körper vernichten. Aber auch wenn du ihn zerstörst, wird dir der Lohn der Vergeltung nicht zuteil werden. Das Kriegsgesetz macht deine Schande kund. Die Glieder sind wie eine Schlachtreihe im Kampfe aufgestellt; diese durchbricht der Satan bei denjenigen, welche ihre äußeren Sinne verstümmeln. [590] Wenn die Reiterei flieht, wird das Fußvolk niedergemacht; wer den Rücken wendet und den Mut verliert, den tötet sein Kampfgenosse mit dem Schwert5.
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Matth. 5, 29 f. ↩
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Ebd. u. Mark. 9, 46. ↩
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Der Dichter polemisiert im folgenden gegen die wörtliche Auslegung und Befolgung von Matth. 19, 12, wie sie in altchristlicher Zeit zuweilen vorkam. ↩
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Kol. 2, 23. ↩
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Hier ist in einigen Handschriften (vergl. die Ausgabe von Bickell) das Gedicht über die monastische Vollkommenheit eingeschaltet, vergl. unten Nr. 7, S. 187. ↩