Einleitung über Leben und Schriften des Cyrillonas
S. 3 Über den Schriftsteller, dessen Werke hier in deutscher Übersetzung geboten werden, hat sich auch nicht die mindeste Nachricht erhalten.1 Sogar seine Existenz würde vollkommen unbekannt geblieben sein, wenn nicht sechs von ihm verfasste Gedichte in einer syrischen Handschrift des sechsten Jahrhunderts seinen Namen für die Zukunft aufbewahrt hätten. Diese Handschrift ist mit den übrigen nitrischen Manuskripten vom britischen Museum angekauft worden 2, woselbst G. Bickell die Gedichte des Cyrillonas aus derselben abgeschrieben und zunächst in deutscher Übersetzung [in der ersten Auflage des vorliegenden Bändchens], dann auch im syrischen Texte 3 veröffentlicht hat. Die große Bedeutung derselben für Geschichte und Dogmatik rechtfertigt es, dass auch in der Neuauflage der ,,Väterbibliothek„ eine vollständige Übersetzung geboten wird, um so mehr als wir es hier mit einem Dichter zu tun haben, der nach dem Urteil des eben genannten ersten Herausgebers zu den bedeutendsten Dichtern der syrischen Kirche nach dem hl. Ephräm gehört.
S. 4In der Überschrift zur zweiten Homilie über das Pascha Christi wird dem Cyrillonas der Titel Mar gegeben, der in der Regel die bischöfliche Würde bezeichnet, jedoch auch bloß den Ruf der Heiligkeit ausdrücken kann, so dass aus demselben kein sicherer Schluss möglich ist. Dass er übrigens Kleriker, und zwar wenigstens Diakon war, ergibt sich aus dem Anfang seiner Homilie über das Pascha, nach welchem er das der Homilie vorhergehende Evangelium selbst vorgelesen haben muss. Wahrscheinlich ist er aber auch Priester gewesen, wenn anders seine Identität mit dem edessenischen Priester Absamia, dem Neffen des hl. Ephräm, wovon weiter unten noch zu handeln ist, mit einigem Rechte angenommen werden darf. Für seine Heimat findet sich eine Andeutung in der Stelle, wo er die Leiden der vier Weltgegenden aufzählt. Hier versteht er unter dem Morgenland offenbar zunächst die den Persern im Jahre 363 abgetretenen Provinzen, unter dem Abendland das von den heidnischen oder arianischen Germanen bedrohte Europa, unter dem Süden das heilige Land; den Norden, den er als seine eigene, durch die Hunnen schon früher verheerte und jetzt abermals bedrohte Heimat bezeichnet, müssen wir also entweder in dem eigentlichen Syrien oder noch wahrscheinlicher in dem nördlichen Mesopotamien, vielleicht in Edessa, suchen.
Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich dagegen das Jahr 396 4 als dasjenige feststellen, in welchem unser Dichter seine Homilie über den Hunnenkrieg gedichtet hat. Er sagt nämlich, die Hunnen hätten bereits vor kaum einem Jahre die Gegend verwüstet und ihre Einwohner gefangen abgeführt, und drohten nunmehr ihren Einfall zu wiederholen. Nun berichten Sokrates 5 S. 5 Sozomenos 6 Claudian 7, die Chronik von Edessa 8, Dionysius von Telmahar 9 und eine von Land herausgegebene syrische Fortsetzung der Eusebianischen Chronik 10, dass die Hunnen im Jahre 395 Asien verwüstet haben. Dagegen setzen der hl. Hieronymus 11 und der Stylit Josue 12 dieses Ereignis in das folgende Jahr. Beide Angaben lassen sich durch eine Stelle des Claudian 13 vereinigen, nach welcher die 395 begonnenen Raubzüge der Hunnen noch im folgenden Jahre, und zwar ärger als zuvor in Kappadozien und Syrien fortdauerten. Von besonderer Wichtigkeit ist eine Stelle aus Lands syrischer Chronik 14 wonach die Hunnen 395 in das römische Gebiet einfielen und ganz Vorderasien verwüsteten. „Darauf wendeten sie sich um, als ob sie nach ihrer Heimat zurückkehren wollten, zogen aber am Euphrat und Tigris entlang nach dem persischen Gebiet herunter. Sie kamen auch zu der persischen Königsstadt, wo sie aber keinen Schaden anrichteten; dagegen zerstörten sie eine Menge Ortschaften am Euphrat und Tigris, indem sie viele Einwohner töteten oder gefangen mit sich schleppten.“ Es wird nun weiter erzählt, dass die Hunnen von den Persern geschlagen und die von jenen aus dem römischen Reich mitgebrachten 18.000 Gefangenen in Persien angesiedelt wurden, woselbst sie „mehrere Jahre„ wohlverpflegt blieben, aber durch die Nachwirkungen der bei den Hunnen erlittenen schlechten Behandlung massenhaft wegstarben. Der König Jezdegard ließ 1330 Gefangene in das römische Reich zurückkehren, nachdem schon vor seinem Regierungsantritt 1000 entlassen worden waren. Alle diese Einzelheiten hat sich der Berichterstatter von den Gefangenen S. 6 selbst erzählen lassen. Da nun Jezdegard im Jahre 399 den Thron bestieg, so trifft jener Sieg der Perser gut auf das Jahr 396. Wenn wir Edessa als Wohnort des Cyrillonas annehmen, so lässt sich die kaum ein Jahr nach der ersten eingetretene zweite Bedrohung seiner Heimat durch die Hunnen recht wohl auf jene Zeit beziehen, als die Hunnen auf der Rückkehr von ihrer langen Expedition durch Mesopotamien, Syrien und Kappadozien den Euphrat abwärts zogen und bei dieser Gelegenheit gewiss auch an Edessa vorbeikamen, dem sie schon zu Anfang ihres ersten Zuges einen Besuch abgestattet haben müssen.
Wenn diese Zeitbestimmung noch einer Bestätigung bedürfte, so würde ihr eine solche durch die Erwähnung der Erdbeben zuteil werden. Als das letzte der von Gott über die Welt verhängten Strafgerichte wird nämlich die Heimsuchung mehrerer Städte durch Erdbeben angeführt. Aus der Chronik des Marcellinus 15 aber wissen wir, dass im Jahre 396 mehrere Tage hindurch Erdbeben wüteten. Freilich gehören solche Naturereignisse in jenen Gegenden nicht gerade zu den Seltenheiten; deshalb ist der folgende außergewöhnliche Umstand noch viel entscheidender. Cyrillonas erzählt nämlich, dass damals die kaiserliche Residenzstadt selbst mit dem Untergange durch ein Erdbeben bedroht gewesen sei, dass aber die Buße und das Gebet des Kaisers und des Volkes die göttliche Barmherzigkeit zur Verschonung der Stadt bewogen habe. Der hl. Augustin beschreibt einige Jahre später diesen Vorfall ausführlich in einer Predigt 16, in welcher er ausdrücklich erklärt, dass mehrere seiner Diözesanen dabei zugegen gewesen seien.
Nach seiner Darstellung ließ Gott dem Bischof von Konstantinopel durch einen frommen Seher verkündigen, die Stadt werde an einem bestimmten Tage durch Feuer vom Himmel vernichtet werden. Dieser Beschluss S. 7 wurde zwar wegen der eifrigen Buße der Einwohner nicht ausgeführt, aber an dem bestimmten Tage schwebte eine furchtbare Feuerwolke über der ganzen Stadt. Die Wirkung des Phänomens beschreibt der hl. Augustin fast mit denselben Worten wie unser Cyrillonas, indem er sagt, die Kirchen wären für die hinein eilende Menge zu klein gewesen, und die Nichtgetauften hätten sich überall zu den Priestern gedrängt, um das Sakrament der Wiedergeburt zu empfangen. Für den folgenden Sonnabend wurde aufs neue der Untergang der Stadt angekündigt. Sämtliche Einwohner, unter ihnen auch der Kaiser Arkadius, verließen daher die Stadt, beteten und schrien in einer Entfernung von einigen Meilen gemeinschaftlich um Erbarmen, während sich über der Stadt eine ungeheure Rauchwolke erhob. Als diese endlich schwand, kehrte man unter Danksagung und Lobpreis nach der Stadt zurück, wo sich alles unversehrt vorfand. Es ist wohl unzweifelhaft, dass Cyrillonas auf eben dieses Ereignis anspielt. Da nun nach der Chronik von Edessa der Hunneneinfall wahrscheinlich 395 stattfand, unser Gedicht aber “noch nicht ein Jahr nachher" verfasst ist, so scheint es dem Frühling 396 anzugehören. Zur Gewissheit wird diese Vermutung dadurch, dass es am Allerheiligenfeste gesungen wurde. Es kommen nämlich im vierten Jahrhundert drei Allerheiligenfeste vor, welche sämtlich in den Frühling fallen 17.
Wenn die oben ausgesprochene Vermutung, dass Cyrillonas ein Edessener war, sich empfehlen sollte, so dürfte es vielleicht nicht zu kühn sein, ihn mit dem edessenischen Priester Absamias, einem Schwestersohn des hl. Ephräm, zu identifizieren, der nach dem Zeugnis der Chronik von Edessa um das Jahr 404 Oden und metrische Homilien über den Einfall der Hunnen in das römische Gebiet aufgezeichnet hat. In der syrischen Biographie des hl. Ephräm 18 wird erzählt, die Hunnen hätten Edessa nicht einnehmen können, dafür aber die S. 8 ganze Umgegend verwüstet, die Einwohner gefangen abgeführt und mit besonderer Grausamkeit gegen die Klöster gewütet; der hl. Ephräm habe über diese Greuel geschrieben. Letzteres beruht offenbar auf einer Verwechslung des längst vor dem Hunneneinfall verstorbenen Heiligen mit seinem Neffen Absamias. Sachlich ist demnach obige Vermutung jedenfalls begründet. Eine Schwierigkeit könnte nur aus der Namensdifferenz hergeleitet werden. Allein diese wird sehr einfach erledigt durch die Annahme, dass Absamias beim Empfang der Priesterweihe den Namen Cyrillonas angenommen habe 19
Über die Schriften des Cyrillonas hier im einzelnen zu reden, ist überflüssig, da uns von denselben nur die sechs Gedichte erhalten sind, die im folgenden mitgeteilt werden sollen. Gewiss wird jeder Leser in unser Bedauern einstimmen, dass uns nur so wenig von diesem merkwürdigen Autor aufbewahrt ist; denn seine Poesie ist in hohem Grade originell, kraftvoll, erhaben und tiefsinnig, wenn auch vielleicht etwas zu sehr mit kühnen und sonderbaren Metaphern überladen. Bickell hält ihn, wie bereits bemerkt, für den bedeutendsten syrischen Dichter nach dem hl. Ephräm. Noch wichtiger wird er aber für uns durch das bestimmte Zeugnis, welches er für so viele von den Reformatoren angegriffene katholische Lehren auf den wenigen Seiten seiner Dichtungen ablegt, namentlich für das hl. Messopfer, für die wahre Gegenwart Christi in der hl. Eucharistie, für die Sündenlosigkeit der hl. Jungfrau, die Anrufung der Märtyrer und die Verehrung ihrer Reliquien.
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Vergl. darüber "W. Wright, A short history of Syriae literature, London 1894, S. 42 und R. Duval, La litterature syriaque, Paris 1907, S. 335 ↩
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Br. Mus. Cod. add. 14591, S. 54 bis 83. ↩
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Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft [= ZPMG] XXVII [1873] S. 566 bis 598; dazu einige Berichtigungen ebenda XXXV [1881] S. 531 f.; die erste Homilie über das Pascha Christi findet sich auch in P.D.S.Cardahi, Liber Thesauri de arte poetica Syrorum, Romao 1875. – Zu seiner Übersetzung gab Bickell in den Ausgewählten Schriften der syrischen Kirchenväter Aphraates, Rabulas und Isaak von Ninive, Kempten 1874. S. 410-411 einige nachträgliche Bemerkungen und S. 414 bis 424 metrische Proben aus Cyrillonas. ↩
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und nicht 397, wie neuestens Duval, Lit.Syr., will. Die Beweisführung Bickells besteht vollkommen zu Recht. Die Angabe der edessenischen Chronik für den Hunneneinfall ist zwar missverständlich, wird aber doch am natürlichsten auf das Jahr 396 bezogen. Vergl. L.Hallier, Untersuchungen über die edessenische Chronik, Leipzig 1890, S.104. ↩
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VI 1, 6.7 [Hussey, Socr. Eccl. Hist, S.656]. ↩
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VlII, 1. 2 [Hussey. Soz. Eccl. Hist. S. 780]. ↩
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In Rufinum, 1.I,V.320; Th. Birt, Claudii Claudiani Carmina [Mon.Germ.Hist. t.X] S.30. ↩
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L. Hallier, a.a.O. ↩
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J.S.Assemani, Bibliotheca Orientalis I.,S.400. ↩
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Land, Anecdota Syriaca I.S.108. ↩
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Ep. ad Oceanum 8 [Ep. 77], Migne P.L.22, S.695. ↩
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Bibl.Or. I,S.264. ↩
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In Rufinum 1.II V.270 ff. Birt S.44. ↩
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Land, Anecdota Syriaca I. S.108. ↩
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Chronica Min. ed. Th. Mommsen, Berlin 1802, S.64 [Mon. Germ. Hist. t.IX.1]. Die gleiche Nachricht hat auch Tiro Prosper, ist aber hier wahrscheinlich aus Marcellinus entlehnt, vergl. a.a.O. S.498. ↩
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Sermo de urbis excidia VI,7, Migne P.L. LX, 722. ↩
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vgl. Bickell, Tübinger Quartalschrift 1866, S.467. ↩
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M. Lamy, S. Ephraemi Syri hymni et sermones II.5; Bedjan, Acta mart. et sanct. III, S.621. ↩
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Diese Hypothese, die Bickell in der ersten Auflage vorliegender Übersetzung zum ersten Male vorgetragen hat, ist in sich durchaus wahrscheinlich und hat auch Zustimmung gefunden, vergl. Duval, Lit.Syr. S.336. Ablehnend verhält sich Wright, Syr.Lit. S.42, weil die syrische Chronik den Absamias unter dem Namen Cyrillonas nicht kennt; vergl. auch Addai Scher, Revue de l'Orient chret. 1906, S.31 ↩