Einleitung
S. 177 Vor zwölf Jahren, als ich mich im Zusammenhange mit philologischen Studien zu Augustinus auch mit den ältesten Apologeten des Christentums bekannt machen mußte, haben zwei kleine Studien, die ich über Tatian herausgab 1, freundliches Lob geerntet 2. Um so lieber ist’s mir, daß ich heute, durch die ehrende Einladung der Herausgeber dieser Sammlung zu Tatian zurückgeführt, keinen Anlaß finde, meine damals geäußerten Ansichten in wesentlichen Punkten zu widerrufen oder richtigzustellen.
Der Apologet Tatian wurde als Kind syrisch redender Eltern nach seinem eigenen Zeugnisse (or. ad Gr. c. XLII) im „Lande der Assyrier“ (d. i. im Gebiete des mittleren Tigris und seiner Zuflüsse) geboren. Aber griechische Lehrer waren es, die seine Erziehung besorgten und den Jüngling nach dem Zuge der Zeit vorwiegend mit griechischer Rhetorik und Philosophie bekannt machten. Zuerst als Lernender, dann nach dem Beispiel seiner Meister als professioneller Sophist, als Deklamator und Wanderlehrer, durchzog er die damalige Kulturwelt von Ost nach West, den gräzisierten Orient, das eigentliche Hellas und Italien. Wie viele andere von der Frage nach dem Zweck und Ziel unseres Daseins lebhaft beunruhigt, suchte auch Tatian die Wahrheit zunächst im phantastischen Wirrsal der verschiedensten Götterkulte und im geheimnisvollen S. 178 Dunkel griechischer Mysterien, erst in reifen Jahren, wie er selbst erzählt, in der befreienden Schlichtheit des Christentums. Wann und wo sein Übertritt zu dieser „barbarischen Philosophie“ erfolgte, läßt sich nicht feststellen: aber in Rom war er nach glaubwürdigen Zeugnissen 3 schon Schüler des Justinus von Sichem, der zwischen 163 und 167 den Märtyrertod erlitt, und Lehrer des späteren Antignostikers Rhodon 4, dessen öffentliches Auftreten von Eusebius in die Regierungszeit des Kaisers Commodus (b0180-192) verlegt wird. Rechtgläubig freilich blieb Tatian, wie Irenäus versichert, nur solange sein bewunderter Lehrer Justinus lebte. Im Orient aber, in den er nach dem Tode Justins zurückgekehrt war 5, hat er sich ketzerischen Lehren zugewandt und wurde Führer der sog. Enkratiten, die unter anderem die Ehe und den Fleisch- und Weingenuß als sündhaft verwarfen. Die kargen Ergebnisse der bisherigen Forschung über Tatians Lebensgang und Lehrtätigkeit sind kritisch besprochen worden von O. Bardenhewer , Gesch. der altkirchl. Literatur 1 (b01902), S. 242-262; A. B1udau bei Wetzer – Welte, Kirchenlexikon, 2. Aufl., Bd. XI (b01899), Sp. 1233-1243; A. Harnack , Gesch. der altchristl. Literatur 1 (b01893), S. 485 ff.; Chronologie der altchristl. Literatur 1 (b01897), S. 284 ff.; E. Preuschen in Realenzykl. f. d. protest. Theol. und Kirche, 3. Aufl. (b01907). Bd. XIX, S. 386 ff. u. aa. 6. Dort kann man auch Näheres über Tatians S. 179 Werke nachlesen, von denen das „Buch der Probleme“, die Schrift „Über die Vollkommenheit nach den Worten des Erlösers“, das Werk „Über die Tiere“, eine Abhandlung über die Natur der Dämonen und wohl noch manches andere verloren gegangen ist und bloß zwei Schriften in leidlichem Zustand erhalten blieben: die unter dem Titel Diatessaron τὸ διὰ τεσσάρων εὐαγγέλιον berühmt gewordene Evangelienharmonie, die sich aus syrischen, arabischen, griechischen und lateinischen Quellen in der Hauptsache rekonstruieren läßt, und die Oratio ad Graecos Λόγος πρὸς Ἕλληνας, die von Eusebius als „schönste und nützlichste“ unter allen Schriften Tatians erklärt worden ist.
Nur die an letzter Stelle genannte „Rede“ und ihre geschichtliche Wertung soll uns hier etwas gründlicher beschäftigen. Heutige Forscher, Theologen und Philologen haben, wie bekannt, das lobende Urteil des Eusebius völlig umgestoßen und Tatian just unter Berufung auf seine „Rede“ einen „widerwärtigen Gesellen“·oder doch einen „wenig sympathischen Orientalen“ genannt. Damit haben sie selbstverständlich nur ihr gutes Recht geübt; denn in Geschmacksachen gewährleistet eine alte Regel die Freiheit individueller Betrachtung der Menschen und Dinge. Auch haben sie trotz Kalkmanns „vernichtendem“ Urteil ihre Zensur gewiß nicht ganz so schlimm gemeint, wie Tatians jüngster Verächter 7 zu glauben scheint, wenn er seinerseits unsern Syrer auf neunthalb Druckseiten als einen „halbgebildeten Besserwisser“, einen „untüchtigen Schüler der Grammatiker“, einen „höchst unfertigen Kopf“, einen „seichten Denker“, einen „verlogenen Menschen von äußerst geringer Ehrlichkeit gegen andere und sich selbst“, einen „prahlenden Aftergelehrten“, einen „affektierten Heuchler“, einen „wilden Stilisten“, einen „orientalischen Bildungsfeind“, als ein „trauriges Original“ zu zeichnen versucht. Nicht mit Unrecht könnte Tatian auch diesen modernen Verfolger fragen: διὰ τί γὰρ ἐγκαλοῦμαι λέγων τὰ ἐμά, τὰ δέ μου πάντα καταλύειν σπεύδετε; (Kap. XXVI 4)? Ohne S. 180 mich hier gegenüber Geffckens Kosewörterlexikon nochmals auf eine umständliche Ehrenrettung Tatians einlassen zu wollen, verweise ich kurzerhand auf meine Anmerkungen zu Kap. XI 6, XXIV 2, XXVII 9, XXIX 1 und bin überzeugt. daß man so krasse Übertreibungen mittels der folgenden Darlegungen unschwer auf ihr historisch begründetes Maß einschränken wird. Im übrigen soll am wirksamsten, wie ich hoffe, meine neue Übersetzung ein gerechteres Verständnis des syrischen Apologeten vermitteln und ihr vornehmster Zweck erreicht sein, wenn sie dazu beiträgt, daß man Tatian in Wahrheit nicht als eine ganz irreguläre Persönlichkeit, sondern vielmehr als „Glied einer Entwicklungsreihe“, aber anders und besser einschätzen lerne, als dies neuestens zu geschehen pflegt 8 . Drei vielbehandelte Probleme warten hierbei auf Lösung: der Streithandel um die Disposition der Rede , die Erforschung ihrer Absicht und ihres unmittelbaren Zweckes , die Frage nach Zeit und 0rt ihrer Entstehung .
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Tatians sogenannte Apologie, Leipzig, B. G. Teubner, 1900; Altersbeweis und Künstlerkatalog in Tatians Rede an die Griechen, Progr. d. Sophiengymn. Wien 1900; vgl. Festschrift für Theodor Gomperz, Wien 1902, S. 859 ff. ↩
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Vgl. Funk in Tüb. Theolog. Quartalschr. 1902, S. 286f.; Lüdemann in Arch. f. Gesch, d. Philos. XV 3, S. 415 ff.; Dräseke in Wochenschr. f. klass. Philol. XVII 40, S. 1081-1090; 44, S. 1202-1205; Ehrhard, Die altchristliche Literatur und ihre Erforschung, Freiburg 1900, S. 286 und 288; Wehofer in Zeitschr. f. d. österr. Gymn. 1901, S. 594 f. u. aa. ↩
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Iren. adv. haer. I 28,1; Euseb. hist. eccl. IV 29,1; vgl. Epiphan. haer. 46,1. ↩
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Euseb. hist. eccl. V 13,1.8. ↩
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Epiphanius nennt a. O. das syrische Antiochia, Mesopotamien, Kilikien und Pisidien als Schauplätze seiner Wirksamkeit. ↩
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Aus der neuesten Literatur seien zur Ergänzung hervorgehoben: H. Jordan, Gesch. d. altchristl. Liter., Leipzig 1911; Aime Puech, Les Apologistes Grecs, Paris 1912; P. Wendland, Die hellenist.-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum, 2./3. Aufl., Tübingen 1912. Nicht unerwähnt darf bleiben Ed. Nordens geistvolles Buch Agnostos Theos, Leipzig 1913, das zwar keine direkten Beiträge zu Tatian, aber eine Fülle von Erkenntnissen zur Geschichte religiöser Rede überhaupt vermittelt. Wichtigere Monographien werde ich gelegentlich in den Anmerkungen zur Übersetzung erwähnen. ↩
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J. Geffcken , Zwei griechische Apologeten, Leipzig 1907, S. 105-113. ↩
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Vgl. den zaghaften Widerspruch gegen Geffckens „schlagende“ Charakteristik bei Windelband-Bonhöffer, Gesch. d. antik. . Philosophie, 8. Aufl. (b01912), S. 814, Anm. 2: Geffcken scheine über Tatian und die Apologeten „überhaupt doch vielleicht mitunter etwas zu streng“ (sic!) geurteilt zu haben. ↩