Die kleinasiatisch-byzantinischen Liturgien
S. 190 Kleinasien tritt schon früh in die christliche Missionsgeschichte ein. Paulus’ Reiseziel und Briefe richteten sich nach einer Reihe bedeutender Küsten- und Binnenlandstädte, deren Bevölkerung christlichen Ideen lebhaftestes Interesse entgegenbrachte1. Zuvor der Nährboden hellenistischer Mysterienreligionen, geschwängert von den Lehren phrygischer Gottheiten, des Mithras, der Semele u. a., in kurzer Zeit bebaut von Schülern Jesu, brachte es dreißig-, fünfzig- und hundertfache Frucht. War es Ephesus am Meere, oder eine Stadt Bithyniens, oder Magnesia am Mäander, überall tritt uns Kunde entgegen von dem Siege des Christentums am Schlusse des ersten Jahrhunderts; allerdings auch vom Kampfe der Anhänger der neuen Lehre, für welche sie Leib und Leben in die Schanze schlagen. Aus dieser Zeit der ersten Christenverfolgungen hören wir auch von dem Kristallpunkt christlichen Gemeindelebens, ihren Zusammenkünften, um Gott das Lob zu singen und jene harmlose Speise zu genießen, deren Inhalt für sie Seligkeit ist: in dem Bericht des weitblickenden, den Christen wohlgesinnten Statthalters Plinius von Bithynien (Brief 97 c. 111—112)2. Während die paar Worte, welche er zur Charakteristik des Kultes und zur Hervorhebung des dem Staate absolut ungefährlichen Treibens der Christen niederschreibt, aus dem Bereich des Schwarzen Meeres eine sichere Geschichtsquelle darstellen, tönt uns aus dem andern Ende Kleinasiens das neue Lied der Christen im Wortlaute entgegen, in der Apokalypse des hl. Johannes, die geradezu mit Lobgesängen an Gott und seinen eingeborenen Sohn über und über voll ist. Die Briefe des Johannes an die sieben Gemeinden in Asien, nämlich zu Ephesus, Smyrna, S. 191 Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia, Laodicea (Apoc. c. 1―3) sind Zeugen christlicher Gemeinden, in deren Gebrauch die liturgischen Formeln des Dreimalheilig (c. 4, 8), des Schöpferhymnus (c. 4, 11; c. 7, 12 f.), des Opferliedes (c. 5, 9, 10, 12, 13; c. 12, 10 f.), des Lobpreises der Allmacht Gottes (c. 11, 17―18; c. 15, 4; c. 19, 2, 7) gesprochen und gesungen wurden. Der Schluß des merkwürdigen geheimnisvollen Buches: „Amen. Komm Herr Jesus. Die Gnade des Herrn Jesus mit allen“ (c. 22, 20, 21), bildet von nun an eine Bitte, welche dem Herrn beim eucharistischen Mahle zugerufen wird, wie bereits die Didache zeigt: c. 10, 5 Μαρὰν ἀθά [Maran atha].
Eine leise Ahnung von Bestrebungen, welche die Spaltung der Christengemeinden, insbesondere auch die Vernichtung des christlichen Herrnmahles sich zum Ziele setzten, läßt uns der hl. Ignatius von Antiocheia in seinen Briefen an kleinasiatische Gemeinden zu Beginn des zweiten Jahrhunderts3 hegen. Um die Mitte desselben Jahrhunderts gibt die Grabesstele des Bischofs Aberkios von Hierapolis von dem Genuß der geheimnisvollen Speise Kunde. Von da ab entschwindet Kleinasien unseren Blicken auf liturgischem Gebiete, bis wir wiederum von liturgischen Gebeten und der Messe greifbare Spuren in Märtyrer- und Konzilsakten bekommen.
Haben die Märtyrerakten des ehrwürdigen Greises auf dem Bischofsstuhle von Smyrna, des hl. Polykarp, (c. 18, 2) und jene der kappadokischen Drillinge Speusippos, Eleusippos und Melesippos4 uns Teile eines Dankgebets, in dem die Schöpfung und Erhaltung der Welt gepriesen wird, aufbewahrt, so zeigen die Kanones von Laodicea5 (c. 363) den Gang der Liturgie an. Beide Zeugen aber verraten uns, daß in Kleinasien trotz gewisser Eigenart der Liturgietypus der syrisch-antiochenische war; denn die Verwandtschaft mit dem achten Buch der apostolischen Konstitutionen ist nicht nur in der Partie des Dankgebets, sondern auch in den Gebeten über Katechumenen und Büßer und deren Entlassung festzustellen.
Zu diesen Dokumenten treten subsidiäre Zeugnisse aus den Schriften kleinasiatischer Kirchenschriftsteller: S. 192 des Gregor Thaumaturgus (233—270); des hl. Basilius, Gregor von Nyssa und jenes von Nazianz, des hl. Caesarius, der Konzilien des vierten Jahrhunderts von Ancyra (314), Neocaesarea (315), Gangra (358)6, deren Aussagen Ferd. Probst und Brightman zusammengestellt und gesichtet haben.
Der Siegeszug der syrischen Liturgie erfaßte nicht bloß Kleinasien mit seiner alten christlichen Vergangenheit, sondern auch das erst im vierten Jahrhundert in den Kreis der christlichen Kulturzentren hereintretende Byzanz. Die Verlegung der kaiserlichen Residenz gab ihm alsbald eine hervorragende Stellung unter den damaligen Bischofssitzen und der östlichen Christenheit, so daß wir annehmen dürfen, daß auch in liturgischer Beziehung sich dieser Einfluß geltend machte. Die Grundlage byzantinischer Liturgie war aber zunächst wesentlich syrisch. Es ist gewiß nicht zufällig, daß der Presbyter von Antiocheia, Johannes, mit dem späteren Beinamen Chrysostomus, gerade in Byzanz auf den erzbischöflichen Stuhl erhoben wurde, und daß seine liturgischen Notizen in den Schriften, die er zu Konstantinopel verfaßte, mit denen seiner antiochenischen Zeit wesentlich harmonieren7.
In der weiteren Entwicklung der Liturgien nimmt die byzantinische eine führende Rolle ein. Zwar haben wir bereits gesehen, daß Syrien die Aufnahme des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers als Vorakt der Kommunion anbahnte; allein die äußere Ausgestaltung der Liturgie ist zweifellos auf Byzanz zurückzuführen. Die Erweiterung des Opfer- und Mahlcharakters zu einem heiligen Drama, wobei das Allerheiligste durch eine Bilderwand nach Art des antiken Theaters (Proszeniums) abgesperrt wird, durch welche die Liturgen bei bestimmten Anlässen ein- und austreten, ferner daß die Chöre die Rolle der Reflexionen des Volkes über das Mysterium übernehmen, all das sind Züge, welche an das antike Drama erinnern. Das christliche Schauspiel des Orients8, welches sich vom dritten Jahrhundert ab entwickelte, ist wohl die beste Parallele zur Ausgestaltung des hl. Dramas der Liturgie.
S. 193 Diese Form entspricht einem Stadium, das wir in das sechste Jahrhundert verlegen dürfen, in die Zeit Justinians. Karl Holl9 , welcher in seiner Untersuchung über „die Entstehung der Bilderwand in der griechischen Kirche“ einiges Licht über die mehr äußerliche Vollendung der Liturgie verbreitete, konnte näherhin die zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts bezeichnen. Mit dem Aufkommen der Bilderwand, welche an Stelle der bisher verwendeten Vorhänge den eigentlichen Chor von dem Zuhörerraume schied, hängt auch die Zeremonie der beiden „Eintritte“ zusammen: Der sogenannte „kleine Eintritt“, wobei das Evangelienbuch vor den Lesungen im Gläubigenraume herumgetragen wird, und der „große Eintritt“, in welchem die Opfergaben in Prozession von dem einen Tor der Ikonostase zum andern durch das Schiff gebracht werden, zu Beginn der Gläubigenmesse. Paulus Silentiarus (c. 563) scheint der erste Zeuge für das Aufkommen der Bilderwand zu sein, während der Cherubinische Hymnus, wie er genannt wird, c. 573/574 bezeugt ist. Die beiden εἴσοδοι [eisodoi] werden aber erst bei Maximus Confessor († 662) genannt; doch ist auch ihre Datierung in die Regierungszeit Justinians zu verlegen. Offenbar gingen diese Neuerungen von Konstantinopel aus auf alle orientalischen Liturgien über.
Sehen wir zu diesem Resultate, das uns Holl vorlegte, die Zeugen byzantinischer Liturgie des sechsten und der folgenden Jahrhunderte durch, welche Brightman10 zusammenstellte, so können wir eine zweifache Beobachtung machen. Die byzantinische Liturgie hielt in der Aufnahme neuer Gebete, z. B. des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers, der Ausgestaltung mancher Akte, mit den syrischen und ägyptischen Liturgien gleichen Schritt, eilte ihnen aber in der Einlage der Hymnen, überhaupt der Verwendung des Chores, voran. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Ist auch die Mitteilung des Johannes von Damaskus, daß das Trisagion ἅγιος ὁ θεός, ἅγιος ἰσχυρός, ἅγιος ἀθάνατος, ἐλέησον ἡμᾶς [hagios ho theos, hagios ischyros, hagios athanatos, eleēson hēmas] auf eine übernatürliche Offenbarung während des Patriarchats des Proklus (434—446) zurückgehe, nur eine S. 194 legendäre, so verrät sie doch eine mutmaßliche Datierung der Aufnahme dieses Hymnus in die byzantinische Liturgie.
Die weitere Entwicklung zielte zumeist auf den Teil vor den Lesungen ab: die Prothesis, welche ihre Geschichte erst vom siebten bis achten Jahrhundert an erlebt und ihren Abschluß erst im vierzehnten Jahrhundert erreicht. Zunächst kam die Verlegung der Opfergabeneinbringung in diesen vorbereitenden Teil, welchem die Gebete über die hl. Gefäße, die Gebete zu dem Anlegen der liturgischen Gewänder, die Vorbereitungsgebete des Priesters allmählich vorangestellt wurden. Die Hss geben darüber ziemlich genauen Aufschluß, mit deren Handhabe de Meester11 eine Datierung neueintretender Teile versuchen konnte.
Damit haben wir die Hauptrichtlinien der Entwicklung angegeben; es erübrigt uns noch, etwas Geschichtliches über die kleinasiatisch-armenischen Liturgien12 beizufügen. Die armenische Kirche schloß sich seit 491 dem Monophysitismus an und teilte daher in liturgischer Beziehung das Los der monophysitischen Landeskirchen, wie wir solche bereits in Ägypten und Syrien kennen gelernt haben. Die erste Folge war zunächst die Feier der Liturgie in der Landessprache, die weitere bestand darin, daß auch die syrischen Liturgien der Monophysiten übernommen wurden. Wir finden daher, daß die Armenier nicht nur die Basilius- und Chrysostomusliturgie aus dem Griechischen übersetzten und im Gebrauche haben, sondern auch die Jakobusliturgie13 nach syrischer Vorlage, ferner eine Reihe anderer Anaphoren, welche sie den heimischen Kirchenschriftstellern, dem Gregor Illuminator, Gregor von Nazianz, Isaak dem Großen († 439) und Cyrill von Alexandreia zuschrieben.
F. C. Conybeare, welcher sich um die Erforschung und Herausgabe armenischer liturgischer Denkmäler sehr verdient gemacht hat, hat auch eine Disputation14 zwischen einem Patriarchen von S. 195 Antiocheia und dem armenischen Kirchenlehrer Chosroe dem Großen (c. 950), welchem wir einen Kommentar zur Liturgie verdanken, ediert. Es handelt sich darin um Eigenheiten des armenischen Ritus und Kirchenjahres15, z. B. um die Fragen, warum die Armenier in der Liturgie nicht Wasser zum Weine mischen, warum sie Weihnachten nicht von Epiphanie getrennt feiern und noch heidnische Opfermahle16 beibehalten.
Durch die Bemühungen des Patriarchen Athanasius III. (c. 1035, † 1051) kam im Jahre 1037 eine Vereinigung der armenischen und syrischen Monophysiten zustande.
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(1.) Vgl. Ad. Deissmann, Paulus. 1911 (mit einer Karte der christlichen Welt zur Zeit Pauli). Ad. Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten. 2 Bände, Leipzig 1907. H. de Genouillac, L’église chrétienne au temps de s. Ignace. Paris 1907, 1 f., 204 ff. ↩
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(2.) Ephr. Baumgartner, Eucharistie und Agape im Urchristentum. Solothurn 1909, S. 247 ff. ↩
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(3.) s. Th. Schermann, Zur Erklärung der Stelle im Briefe an die Epheser 20, 2, Theologische Quartalschrift, Tübingen 1909. ↩
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(4.) H. Lietzmann, Ein liturgisches Bruchstück des 2. Jahrh. in Zeitschr. f. wissensch. Theol. LIV, 1912, 56—61. C. Weyman, Liturgisches aus Novatian und dem Martyrium der kappadokischen Drillinge in Histor. Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, München 1908, Bd. XXIX 575 f. ↩
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(5.) Brightman, Liturgies Eastern and Western vol. I, appendix M. S. 518—521. ↩
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(6.) s. Ferd. Probst, Liturgie des vierten Jahrhunderts und deren Reform, Münster 1893, 125—155; Brightman, Liturgies app. N S. 521—526. ↩
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(7.) s. Probst S. 202— 225. Placid. de Meester, Les origines et les développements du texte grec de la liturgie de S. Jean Chrysostome in Χρυσοστομικά. [Chrysostomika]. Roma 1908. Fasc. secondo, S. 248 f., 252 f. Vgl. Max Prinz von Sachsen, La doctrine de S. Jean Chrysostome sur la divine Eucharistie in Report of the nineteenth eucharistic congress, held at Westminster from 9th to 13th Septbr. 1908. London 1909. 121—159. Vgl. Chr. Baur, S. Jean Chrysostome et ses oeuvres dans l’histoire littéraire (Recueil de travaux publ. par les membres de conférences d’histoire et de philologie. 18. fasc.) Louvain 1907, 247 ff. ↩
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(8.) Vgl. G. la Piana, Le rappresentazioni sacre e la poesia ritmica dramatica nella letteratura bizantina. Dalle origini al sec. IX. Roma e l’oriente, anno I 1910 —1911, fasc. 8—12 S. 157 ff., 229 ff., 297, 299. ↩
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(9.) K. Holl, Archiv für Religionswissenschaft IX. Band 1906, 365 ff., 369, 374 ff., 378 f. ↩
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(10.) Brightman, appendix O, S. 527—534; appendix P. S. 534—539: die byzant. Liturgie vor und in dem 7. Jahrh. Pargoire, L’église byzantine de 527—847, Paris 1905, 229—234. De Meester a. a. O. Χρυσοστομικά. [Chrysostomika] 259 ff., 290. ↩
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(11.) Χρυσοστομικά [Chrysostomika] S. 358—359. Tabl. synchronique des modifications du texte grec de la liturgie de S. Jean Chrysostome. ↩
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(12.) Fr. Tournebize, Histoire politique et religieuse de l’Arménie. I bis 1393. Paris, Picard 1910, 872 SS. M. Ormanian, L’église arménienne. Son histoire, sa doctrine, sa liturgie. Paris 1910. s. Analecta Bollandiana 29 (1910) 471—474. Sim. Weber, Die kathol. Kirche in Armenien. Freib. 1903. M. Tamarati, L’église Géorgienne des origines jusqu’à nos jours. Avec 104 reprod. Roma 1910. Malan, The life and times of S. Gregory the Illuminator. London 1868. Derselbe, The divine liturgy of the Armenian church of S. Gregory the Illum. London 1870. ↩
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(13.)S. A. Theresius, Rite Géorgien, Roma e l’oriente, anno I (vol. II) Nr. 12 S. 337, 340. Rituale Armenorum. Administration of sacrements and briary rites of armenian church with greek rites of baptism and Epiphany. Edited from oldest Mss by Fred. C. Conybeare 1905. Über die Ausgaben der armenischen Liturgien durch Catergian-Dashian (1897) s. Petr. Ferhat, Denkmäler altarm. Meßliturgie, Oriens christianus. Neue Serie. I. Band. Leipzig 1911, 204 ff. (S. 205 f. die lateinische Übersetzung einer armen. Liturgie Gregors). ↩
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(14.) Conybeare, Dialogus de Christi die natali. Disputatio inter Patriarcham Antiochiae Chosroemque Armenorum doctore, Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde des Urchristentums V 1904, 330 ff. Paul Vetter, Chosroae magni . . . explicatio precum missae Frib. 1880. Weitere Kommentare zur Liturgie verfaßten Nerses von Lambron (1198) und Nerses IV Schnorhali († 1172) s. Brightman p. XCVI ff.—CI. Die armenische Liturgie bei Brightman S. 308 und 412―457. ↩
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(15.) Das armenische Synaxar herausgegeben von G. Bayan in Patrologia orientalis tom. V fasc. 3. ↩
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(16.) Über die armenischen Tieropfer s. I sacrifizi d’animali nelle chiese cristiane in Studi religiosi I 512 f. Girard, Les „Madog“ ou sacrifices arméniennes, Revue d’histoire et de littérature religieuses VIII 6. ↩