1.
Nun hielt ich etwas inne und sprach dann, das Gesagte dem Sinne nach wiederholend: „Das eben S. 291 Ausgeführte scheint einen Widerspruch zu den früheren Darlegungen über die Affekte zu bedeuten. Denn wenn wir annehmen, jene Bewegungen der Seele, welche in einem Abschnitt der Rede aufgezählt wurden, wie Zorn und Furcht, Begierde und Lust u. dgl., zeigten sich in uns wegen unserer Verwandtschaft mit den Tieren, und wenn dabei betont wurde, ihr guter Gebrauch sei Tugend, nur ihr schlechter Sünde, und wenn die Rede noch darauf hinwies, jene Seelenregungen würden überhaupt zu einem tugendhaften Leben beitragen und das Begehrungsvermögen insbesondere zu Gott emporführen, wie auch eine Kette von unten aus emporzieht, so scheint mir, wendete ich ein, in den angeführten Behauptungen ein Widerspruch zum Hauptgedanken der Rede, d. h. zur Unsterblichkeit der Seele zu liegen.“
„Wie meinst du das?“
„Dies, daß, wenn nach unserer Reinigung jegliche unvernünftige Seelenbewegung in uns getilgt ist, jedenfalls auch das Begehren in uns erlischt. Fehlt aber dieses, so fehlt auch das Verlangen nach dem Guten, weil sich ja in der Seele keine Bewegung mehr zeigt, welche ein Verlangen darnach wecken könnte.“
„Darauf können wir“, sprach sie, „sehr wohl entgegnen, daß die Fähigkeit der geistigen Erkenntnis und Unterscheidung zur Ebenbildlichkeit der Seele mit Gott notwendig gehört, da wir auch Gott die genannte Fähigkeit zuschreiben müssen; wenn wir also entweder durch einen sorgsamen Wandel im Diesseits oder durch eine Reinigung im Jenseits unsere Seele aus der Verbindung mit den unvernünftigen Leidenschaften herausheben, kann sie doch noch das Schöne erkennen; das Schöne aber zieht durch ihre eigene Natur jeden an, der es sieht. Ist demnach die Seele von allem Bösen rein, dann wird sie auf jeden Fall dem Schönen sich zuwenden. Schön ist aber auf Grund seiner Natur vor allem Gott; mit ihm tritt daher die Seele vermöge der Reinheit, die sie sich erworben, in enge Verbindung, weil sie dadurch ihm verwandt wird. Auf diese Weise benötigen wir nicht mehr die Anregung von seiten des Begehrungsvermögens, um zum Schönen zu gelangen. Denn wer allerdings in Finsternis wohnt, empfindet Sehnsucht nach dem Lichte; wer aber S. 292 bereits zum Lichte vorgedrungen, hat schon den Genuß an Stelle des Verlangens; wo aber der Genuß stattfindet, erlischt das Verlangen.“