Einleitung zur Schrift: „Über das Gebet (des Herrn)."
S. 34 1 Das „Gebet des Herrn“ hat mit der Erhabenheit seines Ursprungs und mit der Fülle und Tiefe seines Inhalts von jeher die kirchlichen Lehrer und Schriftsteller angeregt, es in ehrfurchtsvoller Erklärung dem Geist und Herzen der Gläubigen nahezubringen. Auch Gregor von Nyssa hat es in seiner gelehrten, tiefsinnigen und frommgläubigen Weise unternommen, eingehend über das Gebet des Herrn zu „philosophieren“. So verdanken wir ihm fünf Homilien über das Vaterunser, ein wertvolles Büchlein, das erleuchtend auf den Geist, erwärmend auf das Herz wirkt. Der Verfasser versteht es, den Diamant des göttlichen Wortes in der Sonne spielen zu lassen, so daß eine Fülle von Licht daraus hervorbricht. In der ersten Homilie spricht er allgemein von der Notwendigkeit des Gebetes, auf das man leider allenthalben vergessen hat, und von der rechten Art und Weise zu beten, denn auch hierin haben seine Zeitgenossen den echten Gebetsgeist verloren. In der zweiten Homilie handelt er von der Anrede „Vater unser, der du bist in den S. 35 Himmeln“. Er wünscht sich mit David die Flügel einer Taube (Ps. 54, 7 [hebr. Ps. 55, 7]), um sich zur Höhe und Großartigkeit solcher Herrenworte emporzuschwingen. Die dritte Homilie umfaßt die ersten zwei Bitten. Sie enthält einen glänzenden Vergleich des alttestamentlichen Hohenpriesters mit dem Priestertum, zu dem im Neuen Bunde jeder Jünger Christi berufen ist. In überreicher Amplifikation wird die Bitte: Adveniat regnum tuum entwickelt. Eine bedeutsame Stelle über die Trinität gegen Ende dieser Homilie ist bei M. 46, 1109 unter den Fragmenten mitgeteilt (vgl. Bardenhewer III 197 f.). In der vierten Homilie illustriert der in physiologischen Fragen bewanderte Autor das Fiat voluntas tua durch den Hinweis auf einen ärztlichen Ausspruch und holt weiter aus, um das Sicut in caelo ita et in terra aus der Mittelstellung des Menschen zwischen Geister- und Körperwelt zu zeigen. Die Bitte um das „tägliche Brot“ findet an ihm einen volkstümlichen Erklärer, der einem Chrysostomus nicht nachsteht. Die fünfte Homilie umschließt die letzten drei Bitten. Die Deutung der tunicae pelliceae (Gen. 3, 21) auf die gefallene Natur kehrt hier zweimal wieder. Originell erscheint die breite allegorische Ausführung über die Schlange im Paradies zu paränetischen Zwecken. Die Bitte: Et ne nos inducas in tentationem erhält eine wohltuende Interpretation durch die mannigfachen Beispiele: Man bittet, daß man nicht in Kriegsgefahr, in eine Feuersbrunst, in einen Seesturm gerate (ne incidas in bellum etc.). Das persönliche Schuldbewußtsein sucht Gregor durch unerbittlichen Hinweis auf die zahlreichen Quellen der Sünde zu wecken.
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Aus: Des heiligen Bischofs Gregor von Nyssa Schriften / aus dem Griechischen übers. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 56) Kempten; München : J. Kösel : F. Pustet, 1927. ↩