29. Kap. Die Häresie des Tatian.
Etwas weiter oben1 haben wir von Tatian einige Worte über den bewundernswerten Justin angeführt und ihn als Schüler des Märtyrers bezeichnet. Dasselbe behauptet Irenäus in dem ersten Buche seiner Schrift „Gegen die Häresien“.2 Daselbst schreibt er über Tatian und dessen Irrlehre also: „Von Satorninus und Marcion ausgehend, lehrten die sog. Enkratiten die Ehelosigkeit und verwarfen damit das alte Werk Gottes, den sie im stillen beschuldigten, Mann und Weib zur Erzeugung des Menschengeschlechtes erschaffen zu haben. Sie forderten die Enthaltung von den sog. animalischen Speisen, wodurch sie sich gegen den Schöpfer des Alls undankbar erwiesen. Auch leugneten sie die Seligkeit des ersten Menschen. Diese Lehren sind in unserer Zeit bei diesen Leuten aufgetaucht, und ein gewisser Tatian ist der erste Urheber solcher Gottlosigkeit. Tatian war Hörer Justins. Solange er mit diesem verkehrte, äußerte er nichts Derartiges; doch nach dessen Martertod fiel er von der Kirche ab und gründete, aufgeblasen von Lehrerdünkel, in der verblendeten Meinung, mehr als die anderen zu sein, eine besondere Schule. Gleich den Valentinianern erdichtete er unsichtbare Äonen, und ähnlich dem Marcion und Satorninus erklärte er die S. 203 Ehe als Gefahr und Unsittlichkeit. Was er gegen die Seligkeit Adams vortrug, war jedoch seine eigene Erfindung.“ So schrieb seinerzeit Irenäus. Etwas später brachte ein Mann namens Severus in die erwähnte Sekte noch mehr Leben und wurde Anlaß, daß ihre Anhänger Severianer genannt wurden. Diese benützen das Gesetz, die Propheten und die Evangelien, wobei sie allerdings den Inhalt der heiligen Schriften eigenartig auslegen. Den Apostel Paulus beschimpfen sie und seine Briefe lehnen sie ab; auch die Apostelgeschichte nehmen sie nicht an. Ihr erster Stifter Tatian verfaßte eine Art Evangelienharmonie und nannte das Werk Diatessaron.3 Es ist bei manchen noch heute erhalten. Auch soll er es gewagt haben, einige Sätze des Apostels zu umschreiben, um die Ausdrucksweise zu verbessern.4 Tatian hinterließ eine große Zahl von Schriften. Den größten Ruhm genießt bei vielen seine Schrift „An die Hellenen“. Er greift darin auf die alten Zeiten zurück, um zu zeigen, daß Moses und die Propheten der Hebräer älter sind als alle berühmten Männer der Hellenen. Tatsächlich scheint diese Schrift das schönste und nützlichste von allen Werken Tatians zu sein.5 Soviel hierüber.
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IV 16 (S. 185—186). ↩
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I 28, 1. ↩
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Das Diatessaron Tatians, welches bei den Syrern lange Zeit das einzige Evangelienbuch war, ist verloren, doch ist eine Rekonstruktion auf verschiedenen Wegen möglich. Das syrische Diatessaron ist Übersetzung oder Überarbeitung einer griechischen Evangelienharmonie, deren älteste Spuren uns wohl in den Apologien Justins entgegentreten. Vgl. H. J. Vogels, „Die altsyrischen Evangelien in ihrem Verhältnis zu Tatians Diatessaron“ (Freiburg 1911): ders., „Beiträge zur Gesch. des Diatessaron im Abendland“, in Neutestl. Abhdl. 8, 1 (Münster i. W. 1919). ↩
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Th. Zahn, „Gesch. d. neutestl. Kanons“ I (1888) S. 423 ff, bezieht diese Worte auf eine Übersetzung der Paulusbriefe ins Syrische. ↩
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Die Schrift ist neu herausgegeben von Ed. Schwartz in TU 4, 1 (Leipzig 1888). ↩