23. Kap. Der Martertod Jakobus’, des sog. Bruders des Herrn.
Da Paulus an den Kaiser appelliert hatte und von Festus nach Rom geschickt worden war, sahen sich die Juden um das Ziel, das sie durch ihr Vorgehen gegen Paulus zu erreichen hofften, betrogen. Sie wandten sich S. 92 daher gegen Jakobus, den Bruder des Herrn, welchem von den Aposteln der bischöfliche Stuhl in Jerusalem zugewiesen worden war. Sie gingen also gegen ihn vor. Sie zitierten ihn und verlangten von ihm, daß er vor dem ganzen Volke den Glauben an Christus abschwöre. Als nun aber Jakobus wider aller Erwarten offen und frei vor der ganzen Menge, wie man es nicht vermutet hatte, bekannte, Jesus, unser Erlöser und Herr, sei der Sohn Gottes, da vermochten sie das Zeugnis dieses Mannes nicht mehr zu ertragen, zumal er überall wegen der Strenge seiner sittlichen und religiösen Auffassung als der gerechteste Mann galt, und sie töteten ihn. Anlaß zu diesem Vorgehen gab ihnen das Fehlen einer höheren Instanz. Da nämlich Festus damals in Judäa gestorben war,1 war das Land ohne Regierung und Verwaltung. Der oben2 angeführte Bericht des Klemens, Jakobus sei von der Zinne des Tempels herabgestürzt und mit einem Stück Holz erschlagen worden, hatte uns bereits Aufschluß über die Art seines Todes gegeben. Am genauesten berichtet über ihn Hegesippus, einer der ersten Nachfolger der Apostel. Er erzählt im zweiten Buche seiner „Erinnerungen“:3 „Die Kirche wurde übernommen von den Aposteln und Jakobus, dem Bruder des Herrn, der von den Zeiten des Herrn an bis auf unsere Tage allgemein der Gerechte genannt wurde; denn es gab noch viele, die den Namen Jakobus führten. Schon vom Mutterleibe an war er heilig. Wein und geistige Getränke nahm er nicht zu sich, auch aß er kein Fleisch. Eine Schere berührte nie S. 93 sein Haupt, noch salbte er sich mit Öl oder nahm Bad. Jakobus allein war es gestattet, das Heiligtum zu betreten; denn er trug kein wollenes, sondern ein leinenes Gewand. Allein pflegte er in den Tempel zu gehen und man fand ihn auf den Knien liegend und für das Volk um Verzeihung flehend. Seine Knie wurden hart wie die eines Kameles, da er ständig auf den Knien lag, um zu Gott zu beten und ihn um Verzeihung für sein Volk zu bitten. Wegen seiner hervorragenden Gerechtigkeit wurde er der Gerechte genannt; er war ein Oblias, was im Griechischen περιοχὴ τοῦ λαοῦ (Stütze und Halt des Volkes) heißt, und war die Gerechtigkeit, von welcher die Propheten sprechen.4 Einige von den sieben weiter oben (in den ‚Erinnerungen’) erwähnten Sekten5 fragten ihn: ‚Welches ist die Türe Jesu?’6 Er antwortete: ‚Jesus ist der Erlöser.’ Einige von ihnen wurden für den Glauben, daß Jesus der Messias ist, gewonnen. Die erwähnten Sekten glaubten aber weder an die Auferstehung noch an die Vergeltung. Diejenigen von ihnen, welche den Glauben annahmen, verdankten ihn dem Jakobus. Da nun auch von den Führern (des Volkes) viele glaubten, entstand ein Aufruhr unter den Juden, den Schriftgelehrten und Pharisäern, welche erklärten, das ganze Volk laufe Gefahr, Jesus als den Messias zu erwarten. Sie gingen daher zu Jakobus und sagten zu ihm: ‚Wir bitten dich, dem Volke Einhalt zu gebieten; denn es ließ sich von Jesus verführen, da es ihn für den Messias hält. Wir bitten dich: Kläre alle, die zum Osterfeste gekommen sind, über Jesus auf! Dir schenken wir alle Vertrauen. Denn wir und das ganze Volk geben dir das Zeugnis, daß du gerecht und unparteiisch bist. Rede daher dem Volke zu, daß es sich nicht bezüglich der Person Jesu irreführen lasse! Denn das ganze Volk und wir alle schenken dir Vertrauen. Stelle dich auf die Zinne des Tempels, damit du dort S. 94 oben gesehen und deine Worte vom ganzen Volke leicht verstanden werden! Denn wegen des Osterfestes sind alle Stämme mit den Heiden versammelt.’ Die erwähnten Schriftgelehrten und Pharisäer führten nun Jakobus auf die Zinne des Tempels und riefen ihm zu: ‚Gerechter, dem wir alle folgen wollen! Da das Volk sich von Jesus, dem Gekreuzigten, irreführen läßt, so tue uns kund, wer die Türe Jesu ist!’ Er antwortete mit lauter Stimme: ‚Was fragt ihr mich über den Sohn des Menschen? Er thront im Himmel zur Rechten der großen Kraft und wird kommen auf den Wolken des Himmels:’ Als auf dieses Zeugnis des Jakobus hin viele voll Begeisterung in Lobpreisungen ausbrachen und riefen: ‚Hosanna dem Sohne Davids!’ — da sprachen die gleichen Schriftgelehrten und Pharisäer zueinander: ‚Wir haben ungeschickt gehandelt, da wir Jesus solches Zeugnis verursachten. Doch lasset uns hinaufsteigen und ihn hinabstürzen, damit sie aus Angst nicht an ihn glauben!’ Da sie schrien: ‚Oh, oh, auch der Gerechte hat sich irreführen lassen!’ erfüllten sie die bei Isaias7 geschriebenen Worte: ‚Lasset uns den Gerechten aus dem Wege räumen; denn er ist uns lästig! Sie werden nunmehr die Früchte ihrer Werke genießen.’ Sie stiegen nun hinauf und warfen den Gerechten hinunter. Und sie schrien zueinander: ‚Lasset uns Jakobus, den Gerechten, steinigen!’ Und sie begannen, ihn zu steinigen; denn trotzdem er hinabgestürzt worden war, war er noch nicht tot. Vielmehr richtete er sich auf und betete auf den Knien: ‚Ich bitte dich, Herr, Gott und Vater, verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!’ Während sie ihn noch steinigten, rief ein Priester aus der Familie Rechab, des Nachkommen der Rechabim, welche der Prophet Jeremias8 erwähnt: ‚Haltet ein! Was tut ihr? Der Gerechte betet für euch!’ Da nahm einer aus ihnen, ein Walker, das Holz, womit er die Kleider preßte, und schlug es auf den Kopf des Gerechten. So starb er des S. 95 Martertodes. Man begrub ihn an derselben Stelle in der Nähe des Tempels. Jakobus war für Juden und Heiden ein glaubwürdiger Zeuge der Messianität Jesu. Bald darauf erfolgte die Belagerung durch Vespasian.“9 In diesen ausführlichen Berichte stimmt Hegesippus mit Klemens überein.
Jakobus war so bewundert und allgemein wegen seiner Gerechtigkeit so gefeiert, daß selbst die Juden, soweit sie noch klar dachten, glaubten, das erwähnte Vorgehen gegen ihn sei die Ursache der bald auf seinen Martertod erfolgten Belagerung von Jerusalem gewesen; nur in dem blutigen Frevel, den sie an ihm begangen hatten, sahen sie den Anlaß ihres Schicksals. Auf jeden Fall trug Josephus kein Bedenken, in seinen Schriften diesen Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Er schrieb:10 „Dieses Schicksal widerfuhr den Juden als Rache für Jakobus, den Gerechten, den Bruder Jesu, des sog, Christus; denn obwohl er der Gerechteste war, hatten ihn die Juden getötet.“ Derselbe Geschichtschreiber erzählt auch von dem Tode des Jakobus im zwanzigsten Buche seiner „Altertümer“. Er berichtet:11 „Als der Kaiser von dem Tode des Festus erfahren hatte, entsandte er den Albinus als Prokurator nach Judäa. Der jüngere Ananus, der, wie gesagt, die hohepriesterliche Würde erhalten hatte, war ein außerordentlich stürmischer Draufgänger; er gehörte der Sekte der Sadduzäer an, welche, wie wir schon gezeigt haben,12 als Richter grausamer waren als alle anderen Juden. Dieser Ananus nun glaubte, da Festus gestorben und Albinus erst noch auf der Reise war, die Lage sei für ihn günstig, weshalb er den Hohen Rat einberief und den Bruder Jesu, des sog. Christus, S. 96 der Jakobus hieß, und noch einige andere Männer vorführen ließ, sie der Gesetzesübertretung beschuldigte und zur Steinigung auslieferte. Alle aber, die als gute Bürger und gewissenhafte Gesetzesmenschen galten, hielten sich darüber sehr auf, und sie schickten heimlich an den König mit der Bitte, er möge dem Ananus wissen lassen, so etwas dürfe nicht mehr geschehen; schon das erstemal habe er nicht recht gehandelt. Einige gingen sogar dem Albinus entgegen, der von Alexandrien her unterwegs war, und klärten ihn darüber auf, daß es dem Ananus nicht erlaubt war, ohne sein Einverständnis die Gerichtssitzung abzuhalten. Albinus schenkte den Worten Gehör, schrieb entrüstet an Ananus und drohte ihm Strafe an. König Agrippa aber entsetzte ihn deswegen seiner hohenpriesterlichen Würde, die er drei Monate bekleidet hatte, und übertrug sie Jesus, dem Sohne des Dammäus.“ Dies ist die Geschichte des Jakobus. Von Jakobus soll der erste der sog. Katholischen Briefe verfaßt sein. Doch ist zu bemerken, daß er für unecht gehalten wird. Denn nicht viele von den Alten haben ihn und den sog. Judasbrief erwähnt, der ebenfalls zu den sog. Katholischen Briefen gehört. Doch ist uns bekannt, daß auch diese beiden Briefe wie die übrigen in den meisten Kirchen öffentlich verlesen worden sind.
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Er war Prokurator von 60—62, Vgl. Schürer, „Gesch. des jüd. Volkes“ I 3 u. 4 S. 579 ff. ↩
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II 1 (S. 60—61). ↩
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Die Schrift ist verlorengegangen bis auf zahlreiche von Eusebius aufbewahrte Bruchstücke und einige Fragmente bei Philippus Sidetes und Stephanus Gobarus. Die Überreste sind gesammelt von Th. Zahn, Forschg. 6 (Leipzig 1900) S. 228 f. ; E. Preuschen, „Antilegomena“ 2 (Giessen 1905) b. 107 ff. (deutsche Übersetzung: S. 210 ff.). Vgl. H. J. Lawlor, „Eusebiana“ S. 1—107. ↩
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Vgl. Is. 3, 10. ↩
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Dieselben werden unten IV 22 genannt. ↩
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Vgl. Joh. 10, 9 f. ↩
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3, 10. ↩
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35, 3 ff. ↩
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Vgl. zu diesem umfangreichsten Fragment des Hegesippus E. Schwartz in „Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft“ 4 (1903) S. 48 ff. ↩
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Dieses Zitat fehlt in dem überlieferten Text des Josephus. ↩
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Altert. 20, 197. 199—203. ↩
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Jüd. Krieg 2, 166. ↩