5. Kap. Die letzte Belagerung der Juden nach Christus.
Nachdem Nero dreizehn Jahre über das Reich regiert hatte und die Herrschaft Galbas und Othos in einem Jahre und sechs Monaten beendet war, wurde Vespasian, der sich im Kampfe gegen die Juden ausgezeichnet hatte, in Judäa selbst zum Kaiser ernannt, wo er von den Truppen als Alleinherrscher ausgerufen wurde. Sofort begab er sich auf die Fahrt nach Rom und überließ seinem Sohne Titus die Bekämpfung der Juden. Als nun nach der Himmelfahrt unseres Erlösers die Juden zu dem Verbrechen an dem Erlöser auch noch die wiederholten Vergehen an seinen Aposteln gefügt hatten, als zunächst Stephanus von ihnen gesteinigt, sodann nach ihm Jakobus, der Sohn des Zebedäus und Bruder des Johannes, enthauptet und schließlich Jakobus, welcher nach der Himmelfahrt unseres Erlösers zuerst den Bischöflichen Stuhl in Jerusalem erhalten hatte, auf die angegebene S. 105 Weise beseitigt worden war als die übrigen Apostel nach unzähligen Todesgefahren, die man ihnen bereitet hatte, das Judenland verlassen hatten und mit der Kraft Christi, der zu ihnen gesagt hatte: „Gehet hin und lehret alle Völker in meinem Namen!“1 zur Predigt des Evangeliums zu allen Völkern hinausgezogen waren, als endlich die Kirchengemeinde in Jerusalem in einer Offenbarung die ihren Führern geworden war, die Weissagung erhalten hatte, noch vor dem Kriege die Stadt zu verlassen und sich in einer Stadt Peräas, namens Pella, niederzulassen, und als sodann die Christgläubigen von Jerusalem weggezogen waren und die heiligen Männer die königliche Hauptstadt der Juden und ganz Judäa völlig geräumt hatten, da brach das Strafgericht Gottes über die Juden wegen der vielen Freveltaten, die sie an Christus und seinen Aposteln begangen hatten, herein und vertilgte gänzlich dieses Geschlecht der Gottlosen aus der Menschengeschichte. Wieviel Elend über das ganze Volk damals überall hereinstürzte, wie vor allem die Bewohner von Judäa in äußerste Not gerieten, wieviele Tausende von militärpflichtigen Männern samt ihren Weibern und Kindern durch Schwert, Hunger und tausenderlei andere Todesarten zugrunde gingen, wie zahlreich und verschiedenartig die Belagerungen jüdischer Städte waren, wie furchtbar, ja über alle Maßen furchtbar die Erlebnisse derer waren, welche sich nach Jerusalem selbst geflüchtet hatten, weil sie die Hauptstadt für eine sehr feste Burg hielten, wie der Krieg im ganzen und in allen seinen Teilen verlief, wie schließlich der von den Propheten2 verheißene Greuel der Verwüstung in dem seit alter Zeit berühmten Gottestempel selbst sich verwirklichte, sofern dieser vollständig zerstört und ganz und gar durch Feuer vernichtet wurde, dies kann jeder, der will, in der von Josephus geschriebenen Geschichte im einzelnen nachlesen. Doch halte ich es für notwendig, S. 106 zu erwähnen, daß nach dem Berichte dieses Schriftstellers3 die Zahl derer, welche sich aus ganz Judäa in den Tagen des Osterfestes versammelt und in Jerusalem — um seine eigenen Worte zu gebrauchen — wie in einem Gefängnis eingeschlossen hatten, gegen drei Millionen betrug. Es sollte so sein, daß sie gerade in den Tagen, an welchen sie über den Erlöser und Wohltäter aller und den Gesalbten Gottes das Leiden verhängt hatten, wie in einem Gefängnis eingeschlossen wurden und von der göttlichen Gerechtigkeit den ihnen bestimmten Untergang erfuhren. Ich übergehe alle jene Leiden, welche ihnen durch das Schwert oder auf andere Weise zugestoßen sind. Ich halte es nur für notwendig, die Leiden der Hungersnot zu erzählen, damit die Leser dieser Geschichte aus diesem Leidensabschnitt ersehen, daß die Strafe Gottes für die Frevel an dem Gesalbten Gottes nicht lange auf sich warten ließ.