XIX. Kapitel: Diese Weissagung über den Erlöser ist von keinem gedichtet, der der Kirche angehört, sondern sie gehört wirklich der erythräischen Sibylle an, deren Bücher Cicero schon vor der Ankunft Christi ins Lateinische übertragen hat; ihrer erwähnt auch Vergil, wie auch der jungfräulichen Geburt; doch feiert er das Geheimnis aus Furcht vor den Machthabern in dunkler Sprache.
Inhaltsangabe:
1. Die meisten meinen, das Gedicht sei ja ganz vortrefflich und nützlich, aber von einem Christen verfaßt.1 2. S. 250Es haben gelehrte Männer unter den Christen der Sache nachgeforscht und gefunden, daß Cicero das Gedicht übersetzt habe; Cicero hat aber lange vor Tiberius gelebt, unter dem der Heiland öffentlich aufgetreten und das neue Volk erstanden ist, von dem Vergil im Anschluß an die kumäische Sibylle spricht. 3. Vergil erwähnt auch die Jungfrau und ihre Wiederkunft. 4. Er spricht aber, obgleich er von der Gottheit Christi wohl wußte, verhüllt, um den Verfolgungen von seiten der Machthaber zu entgehen.
Doch die meisten der Menschen schenken dem keinen Glauben und obwohl sie zugeben müssen, daß es eine weissagende erythräische Sibylle gegeben hat, hegen sie doch den Argwohn, ein Anhänger unserer Religion, der nicht ohne dichterische Begabung gewesen sei, habe diese Verse verfaßt; dieselben seien also unecht und würden nur für eine Weissagung der Sibylle ausgegeben, weil sie sehr nützliche Gedanken enthielten, die die übermäßige Zügellosigkeit der Lüste hemmten und zu einem besonnenen und geordneten Leben anleiteten2 . Es liegt aber die Wahrheit zu Tage, da die Sorgfalt unserer Gelehrten die Zeiten so genau erforscht hat, daß niemand mehr vermuten kann, es sei das Gedicht nach der Herabkunft und Verurteilung Christi gemacht worden und es werde nur die Lüge verbreitet, als ob die Verse eine alte Prophezeiung der Sibylle seien. Es ist ja, wie allgemein bekannt, Cicero auf das Gedicht gestoßen und hat es in die lateinische Sprache übersetzt und seinen Schriften einverleibt3 ; dieser wurde aber S. 251ermordet, als Antonius die Gewalt an sich gerissen hatte; den Antonius überwältigte hinwiederum Augustus, der 56 Jahre regierte. Auf diesen folgte dann Tiberius und zu dessen Zeit erst leuchtete die Gegenwart des Erlösers auf, verbreitete sich das Geheimnis seiner heiligen Religion und erstand das neue Geschlecht des Volkes, von dem, wie ich glaube, der Fürst der römischen Dichter singt:
Drauf wird ein neues Geschlecht von Menschen dem Erdkreis sich zeigen4 ; und wiederum in einer der bukolischen Dichtung ganz fremden Weise:
Laßt von großer Kunde uns singen, sizilische Musen!5
Was ist deutlicher als dies? Er setzt ja hinzu:
Schon ist zum Ende gekommen der Spruch des Orakels von Kumä6 . und er meint mit der Kumäerin offenbar die Sibylle. Und nicht begnügte er sich damit, sondern er ging noch weiter, wie wenn die Not ein Zeugnis von ihm heischte. Wie sprach er also?
Wieder erhebt sich für uns eine heilige Folge der Zeiten; S. 252Wieder auch kehret die Jungfrau, die bringet den lieblichen König!7 Wer ist nun wohl die Jungfrau, die wiederkehrt? Nicht etwa jene, die voll und schwanger des göttlichen Geistes geworden ist? Und was hindert daran, daß die Jungfrau, die mit dem göttlichen Geiste schwanger geht8 , immerdar Jungfrau ist und bleibt? Wiederkehren wird sie aber zum zweiten Male, wenn auch der Gott zum zweiten Male kommt, den ganzen Erdkreis zu erleichtern9 . Und es fügt der Dichter hinzu:
Strahlender Mond, begrüße das neugeborene Knäblein, Das eine goldene Zeit an Stelle des eisernen Alters Spendet der Welt! Denn unter seiner Gewalt wird Heilung jeglicher Wunde, Linderung finden das Weh der armen sündigen Menschheit10 .
S. 253Wir erkennen da, daß dies deutlich und dunkel zugleich in allegorischer Weise ausgesprochen ist; denn den einen, die tiefer die Bedeutung der Worte zu erforschen suchen, wird die Gottheit Christi vor Augen geführt, doch verhüllt der Dichter die Wahrheit, damit keiner von den Machthabern in der Kaiserstadt ihn beschuldigen könne, als schreibe er gegen die väterlichen Gesetze und als wolle er den uralten Götterglauben der Vorfahren ausrotten; denn er wußte, glaube ich, gar wohl von der seligen und nach dem Erlöser benannten Lehre; um aber der wilden Grausamkeit auszuweichen, lenkte er den Geist seiner Zuhörer auf die ihnen vertrauten Vorstellungen hin und sagte, man müsse dem neugeborenen Kinde Altäre errichten, Tempel bauen und Opfer darbringen. Dementsprechend11 ist auch das Folgende, das er für die verständigen Geister hinzufügt; er sagt nämlich:
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Daß das Akrostichon christlichen Ursprungs ist, liegt auf der Hand. Die Kapitelüberschrift geht insofern noch weiter als der Text, weil sie Cicero nicht nur das Akrostichon, sondern überhaupt die Bücher der Sibylle ins Lateinische übersetzen läßt. ↩
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Diese Angaben gehen nicht auf die akrostichische Form, sondern auf den Inhalt der Verse, auf das drohende Gericht. ↩
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Diese Angabe ist natürlich ganz falsch; bezuggenommen ist wohl auf Cicero De Divinatione II 54, wo von einem sibyllinischen Orakel und der Akrostichonform die Rede ist; Einsicht in die Stelle Ciceros hat Konstantin sicher nioht genommen, wahrscheinlich kennt er sie nur vom Hörensagen. ↩
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Vergil, Ekl. 4, 7: Schon steigt ein neues Geschlecht von des Himmels Höhen herab. — Es wird in den Anmerkungen auch die deutsche Übersetzung des Originaltextes der 4. Ekloge [von Kukula, Römische Säkularpoesie, Leipzig 1911, 47 ff.] beigefügt; da der Kommentar zu den lateinischen Versen gemacht ist, diese aber oft sehr frei und fehlerhaft ins Griechische übersetzt sind, wird er vielfach nur durch Vergleich mit dem unveränderten Text der Ekloge verständlich. ↩
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Ekl. 4, 1: Laßt mich einmal, sizilische Musen, ein Lied mit etwas höherem Flug beginnen! Die griechische Übersetzung scheint auf die Verkündigung der Ankunft Christi durch den Engel anzuspielen; der Kommentar spricht aber nur von dem neuen Geschlecht. - Die Verse 2 f. [Nicht jeden freut schon Strauchwerk und niedere Tamariske: wenn ich vom Walde jetzt singe, so geschieht's, weil nur ein Wald sich für den Konsul schickt] mußten aus demselben Grunde wie Vers 11 f. weggelassen ↩
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Ekl. 4, 4: Schon ist des kumäischen Sanges letzte Zeit genaht. ↩
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Ekl. 4, 5 f.; Von neuem beginnt der Jahrhunderte mächtiger Umlauf. Schon kehrt auch die Jungfrau zurück, zurück die Herrschaft Saturns. ↩
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Die Stelle geht auf Luk. 1, 35 [der Hl. Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten]. ↩
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Hier haben wir wohl eine Anspielung auf chiliastische Anschauungen, die um jene Zeit vielfach verbreitet waren. Christus wird auf Erden herrschen und die Erde erleichtern; dabei wird auch die Jungfrau zum zweitenmal kommen. Davon zu sprechen findet sich Konstantin veranlaßt durch die Originalverse Vergils, der vom Zeitalter Saturns spricht; dies gilt ihm als das goldene Zeitalter, das eben mit der Wiederkunft Christi anbrechen wird. Der Übersetzer der Rede Konstantins hat diese Beziehung auf die zweite Herabkunft Christi nicht beachtet, und, wohl weil er an der Erwähnung des Saturn Anstoß genommen hat, den Vers ganz willkürlich geändert. ↩
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Ekl. 4, 8—14: Sei du nur, heilige Lucina, dem kommenden Knaben hold, mit dem alsbald des eisernen Geschlechtes Ende kommen und auf dem Erdenrund ein goldenes erstehen wird: [schon herrscht ja dein Bruder Apoll. Just unter deinem Konsulat, unter dir, mein Pollio, wird also dieser Stolz der Zeit die Bahn betreten und die großen Monde werden ihren Anfang nehmen;] unter deinem Vortritt wird sie, wenn noch Spuren unseres Frevels bleiben, alles tilgen und von ewiger Furcht die Welt erlösen — Die Verse 11 f. hat Konstantin als völlig unbrauchbar sicher ausgelassen; dagegen wird der Ausfall von der zweiten Hälfte des 10. Verses und wohl auch die Änderung zu Beginn des 13. Verses [te duce: toude arcontej] dem Übersetzer zuzuschreiben sein. Die Anrufung der Lucina und namentlich die Herrschaft des Apollo führen von selber auf die im Kommentar erwähnten Tempel und Opfer; diese sind eben Zeichen seiner Herrschaft, wohl auch die Spuren alten Frevels, die erst noch übrig bleiben werden. ↩
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In ähnlicher Weise sich an die alten Anschauungen anlehnend. ↩