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Werke Johannes Chrysostomus (344-407) De sacerdotio libri 1-6 Über das Priestertum (BKV)
6. Buch

KAPITEL XII.

Du siehst also, wie Gott es dir mehr als deutlich dartut, daß er über den Vorgesetzten eine viel schwerere Züchtigung verhängen werde als über die Untergebenen. Denn wenn er sogar die Tochter eines Priesters härter straft als die anderen um eben dieses Priesters willen, so wird er doch wohl von dem Vater, der für jene die Ursache der vermehrten Pein ist, nicht die gleiche, sondern eine weit strengere Genugtuung fordern als von allen übrigen. Und das ganz mit Recht. Betrifft doch der [aus des Priesters Sünde entstehende] Schaden nicht ihn allein, sondern bringt auch die Seelen der Schwächeren und aller derer, die auf ihn schauen, zu Fall. Eben das will auch Ezechiel andeuten, wenn er beim Gerichte die Böcke und die Schafe voneinander sondert1.S. 241. Bist du nun davon überzeugt, daß meine Furcht eine wohlbegründete war? Wenn ich, abgesehen von dem bisher Gesagten, in meinem jetzigen Stande mir zwar auch viele Mühe geben muß, um nicht vollständig von den Leidenschaften meiner Seele überwältigt zu werden, so bin ich doch diesen Anstrengungen gewachsen und fliehe den Kampf nicht. Allerdings werde ich auch jetzt von eitler Ehrsucht niedergehalten; allein oft richte ich mich wieder auf und sehe dann ein, daß ich ein Gefangener war; bisweilen kommt es auch vor, daß ich meine niedergedrückte Seele mit Vorwürfen überhäufe. Unziemliche Begierden fallen mich auch jetzt an; aber die Flamme, die sie entfacht, ist unwirksamer, da meine leiblichen Augen keinen Stoff finden, um Feuer zu fangen. Irgend jemanden zu beschimpfen oder Beschimpfungen anzuhören, davor bin ich vollkommen sichergestellt, weil niemand bei mir ist, mit dem ich mich in Gespräche einlassen könnte; denn diese Wände vermögen doch keinen Laut von sich zu geben. Freilich ist es mir nicht in gleicher Weise möglich, dem Zorne zu entgehen, obwohl niemand da ist, der mich dazu reizt. Oft nämlich kommt mir die Erinnerung an verabscheuungswürdige Leute und ihre Taten und bringt mein Herz in Aufwallung. Indes lasse ich es nicht bis zum äußersten kommen; schnell dämpfe ich seine leidenschaftliche Erregung und suche es zu beruhigen, indem ich mir sage, daß es höchst unheilvoll2 und äußerst erbärmlich sei, seine eigenen Sünden außer acht zu lassen und um die der Nebenmenschen geschäftig sich zu kümmern.

Wenn ich mich jedoch mitten in das Getriebe der Menge begebe und von tausendfachen Aufregungen festgehalten werde, so wird es mir nicht möglich sein, derartige Ermahnungen zu meinem Vorteil an mich selbst zu richten und Erwägungen Raum zu geben, die mich, zu solchen hinleiten. Wie vielmehr diejenigen, welche von einer Strömung oder von einem anderen auf sie einstürmenden Verhängnis in die Tiefe hinabgezogen werden, den Untergang, in dem sie ihr Ende finden, voraussehen, S. 242 aber keine Rettung mehr zu ersinnen vermögen, so werde auch ich, wenn ich in den gewaltigen Strudel der Leidenschaften hineingerate, zwar sicher beobachten können, wie die mir drohende Gefahr sich tagtäglich vergrößert, hingegen mich auf mich selbst zurückzuziehen, wie ich das jetzt vermag und die alsdann von allen Seiten auf mich einstürmenden Seelenkämpfe zu bannen, das wird mir nicht so leicht gelingen, als es vorher der Fall gewesen. Denn meine Seele ist schwach und wenig widerstandsfähig. Sie läßt sich leicht überwältigen nicht nur durch die genannten Leidenschaften, sondern auch durch die widerlichste unter allen, durch die Mißgunst. Sie weiß weder übermütige noch ehrenvolle Behandlung in richtigem Maße zu ertragen; während sie durch die eine sich überschwänglich gehoben fühlt, wird sie durch die andere niedergedrückt. Wie wilde Tiere, wenn sie stark gebaut sind und strotzend von Kraft, die gegen sie Kämpfenden leicht niederwerfen, zumal wenn es sich um Schwächlinge und Unerfahrene handelt, wie3 man aber nicht besonders beherzt zu sein braucht, um dann einen Ringkampf mit ihnen aufzunehmen, wenn man vorher sie vor Hunger sich verzehren läßt und infolgedessen ihren Grimm bändigt und ihre Kraft zum größten Teil bricht, so verhält es sich auch mit den Leidenschaften der Seele. Wer sie entkräftet, macht sie den rechten Vernunftgründen untertänig, wer sie aber geflissentlich nährt, hat einen noch schlimmeren Kampf mit ihnen zu bestehen und regt sie gegen sich so furchtbar auf, daß er sein ganzes Leben in Knechtschaft und elender Ohnmacht zubringen muß.

Was ist nun die Nahrung für diese wilden Tiere? Für Ruhmsucht Ehrenbezeigungen und Lobsprüche, für Hochmut großer Reichtum und einflußreiche Machtstellung, für Neid der hoch geachtete Name der Nebenmenschen, für Geldgier der Ehrgeiz der Geber, für Zügellosigkeit ein weichliches Leben und der beständige Umgang mit Frauen, kurz für das eine [Tier] diese, für das andere jene Nahrung. Alle die genannten wilden S. 243 Tiere werden mich, wenn ich in die Öffentlichkeit trete, mit Ungestüm angreifen und mir die Seele zerfleischen; sie werden mir Furcht einflößen und dadurch den Kampf gegen sie nur noch gefährlicher machen. Bleibe ich hingegen hier sitzen, so werde ich sie freilich auch dann nur mit großer Anstrengung bezwingen; aber bezwingen werde ich sie doch mit Hilfe der göttlichen Gnade und es wird ihnen nichts weiter übrig bleiben, als mich anzubellen. Deshalb hüte ich dieses Häuschen, ohne auszugehen, ohne Umgang und Verkehr zu pflegen, und tausend andere derartige Vorwürfe höre ich an und nehme sie ruhig hin. Gerne allerdings würde ich sie von mir fernhalten; es betrübt und schmerzt mich, daß ich dazu nicht imstande bin. Denn es wäre nicht leicht durchführbar für mich, zugleich den Verkehr mit anderen aufzunehmen und in der jetzigen Sicherheit zu verharren. Darum bitte ich auch dich, du mögest in der so peinlichen Verlegenheit, in der ich mich befinde, mich mehr bemitleiden als anklagen.

Jedoch, ich überzeuge dich immer noch nicht? So ist es denn nunmehr Zeit, daß ich dir auch noch das einzige Geheimnis preisgebe, welches ich noch auf dem Herzen hatte. Vielleicht wird es manchen unglaublich erscheinen; ich will mich aber trotzdem nicht schämen, es offen zu bekennen. Wenn meine Aussage auch ein Beweis eines bösen Gewissens und von zahllosen Sünden sein mag, was wird es mir nützen können, falls die Menschen darüber in Unkenntnis bleiben, da doch Gott, der alles genau weiß, mich einstens richten wird? Nun, was ist denn das für ein Geheimnis? Seit jenem Tage, an dem du mir diesen Verdacht4 beigebracht hast, war mein Leib wiederholt in Gefahr, in völlige Auflösung zu verfallen; eine so große Furcht, eine so große Verzagtheit hielt meine Seele gefangen. Indem ich nämlich die Herrlichkeit der Braut Christi bedachte, ihre Heiligkeit, ihre geistige Schönheit, ihre Weisheit, die in ihr herrschende Ordnung, und daneben vergleichsweise meine eigene Erbärmlichkeit stellte, da konnte ich nicht auf-S. 244 hören, sie und mich selbst zu betrauern5. Fortwährend seufzend und von Verzweiflung erfaßt, sagte ich zu mir selber: Wer hat denn dazu geraten? Wie, sollte die Kirche Gottes sich so sehr versündigt haben? Sollte sie ihren Herrn so sehr aufgebracht haben, daß sie mir, dem Allerunwürdigsten, ausgeliefert werden und solche Schmach erleiden soll? Während ich des öfteren derartige Erwägungen bei mir anstellte und mich außerstande fühlte, auch nur den Gedanken an eine solche allzu starke Ungereimtheit zu ertragen, da lag ich da wie ein Wahnsinniger mit offenem Munde und vermochte weder etwas zu sehen noch zu hören. Wenn mich aber diese völlige Hilflosigkeit verließ — denn bisweilen verschwand sie auch wieder —, wurde sie gleich von Tränen und Niedergeschlagenheit abgelöst. Hatte ich mich dann sattgeweint, kam die Furcht wieder über mich und beunruhigte, verwirrte und erschütterte mein ganzes Gemüt. In solchem Sturmgewitter habe ich die jüngst verflossene Zeit zugebracht; du aber wußtest das nicht, sondern meintest, daß ich in stiller Ruhe dahinlebe.

Nun will ich versuchen, den Sturm, der über meine Seele gekommen, dir näher zu schildern. Vielleicht wirst du alsdann deine Vorwürfe aufgeben und mir Verzeihung angedeihen lassen. Wie soll ich dir jedoch, ja wie soll ich dir diesen Leidenssturm beschreiben? Wolltest du einen genauen Einblick gewinnen, so wäre das nicht anders möglich, als indem ich dir mein Herz bloßlege. Da dies aber undurchführbar ist, so will ich versuchen, soweit ich dazu imstande bin, dir vermittelst eines wenn auch nur schwachen Gleichnisses wenigstens den Rauch meiner bisherigen Niedergeschlagenheit anzudeuten. Du jedoch sollst aus dem Gleichnisse lediglich meine Verzagtheit verstehen lernen. Nehmen wir an, die Tochter eines Königs, der über die ganze Erde, soweit sie die Sonne bescheint, herrscht, sei mit jemandem verlobt; diese Jungfrau besitze eine unaussprechliche Schönheit, dergleichen selbst die menschliche Na- S. 245 tur überrage, durch welche sie über das gesamte weibliche Geschlecht in gewaltigem Abstande den Preis davontrage; die Vollkommenheit ihrer Seele sei derart, daß sie hierin auch das Geschlecht der Männer, der früheren sowohl wie der zukünftigen, in weitem Maße hinter sich zurücklasse; an trefflicher Charakterbildung habe sie sogar noch jegliches Ideal der Philosophie übertroffen; durch die Anmut ihrer eigenen Erscheinung stelle sie jede leibliche Schönheit in den Schatten. Nehmen wir ferner an, ihr Bräutigam sei nicht nur wegen dieser Vorzüge für die Jungfrau entbrannt, sondern auch abgesehen davon von leidenschaftlicher Liebe für sie erfüllt und verdunkele durch seine Leidenschaft die der rasendsten Liebhaber, welche jemals gelebt haben. Da erfahre er nun mitten in der Glut seines Liebeszaubers irgendwoher, daß ein gemeiner und verworfener Mensch, ein nichtswürdiges, körperlich verstümmeltes und allererbärmlichstes Geschöpf, seine bewunderungswürdige, zärtlich geliebte Braut zur Ehe nehmen wolle. Habe ich dir nicht hiermit einen kleinen Teil meines Schmerzes vor Augen gestellt? Oder genügt es nicht, das Gleichnis bloß bis hierher durchzuführen? Allerdings glaube ich, daß das hinreichen dürfte, soweit es sich dabei um die Kennzeichnung meiner Niedergeschlagenheit handelt. Denn um dessentwillen allein habe ich ja das Gleichnis vorgebracht.

Um dir aber deutlicher zu zeigen, welches Maß von Furcht und Bestürzung mich erfasst hat, will ich noch zu einem anderen Gemälde übergehen. Stelle dir ein Kriegsheer vor, das aus Fußvolk, Reiterei und Seesoldaten zusammengesetzt ist. Die Zahl der Kriegsschiffe verberge das Wasser des Meeres; die weiten Gefilde und die Bergeshöhen seien mit den Schlachtreihen der Fußsoldaten und Reiter bedeckt. Das Erz der Waffen funkele wider im Glänze der Sonne, und in den von ihr herabgesandten Strahlen leuchte auf der helle Schein der Helme und Schilde. Das Krachen der Speere und das Wiehern der Pferde schalle bis zum Himmel empor. Weder das Meer noch die Erde sei zu sehen, sondern überall nur Erz und Stahl, Diesem Heere treten nun Feinde gegenüber, rohe und wilde Gesellen; der Augen- S. 246 blick des Zusammenstoßes stehe nahe bevor. Da bemächtige man sich jählings eines jungen Mannes, der, auf dem Lande aufgewachsen, nichts anderes als die Hirtenflöte und den Hirtenstab kennt, wappne ihn mit einer ehernen Rüstung, führe ihn durch das ganze Kriegslager und zeige ihm die einzelnen Abteilungen und ihre Anführer, die Bogenschützen, die Schleuderer, die Hauptleute, die Oberbefehlshaber, die Schwerbewaffneten, die Reiter, die Lanzenwerfer, sodann die Kriegsschiffe, die Flottenführer, die Mannschaft, die sich auf den Schiffen verschanzt hat, und die große Menge der dort befindlichen Kriegsmaschinen; man lasse ihn ferner die ganze Schlachtlinie der Feinde sehen, darunter manche abscheuliche Gestalten, ihre seltsame Waffenrüstung, ihre ungeheure Anzahl, die tiefen Gräben und Abhänge und das schwierige6 bergige Terrain; man zeige ihm schließlich, wie auf Seiten der Gegner infolge einer Zauberkraft Pferde dahinfliegen, schwerbewaffnete Krieger durch die Luft schweben und welche Macht und Mittel jeder Art von Zauberei diesen zur Verfügung stehen. Man schildere ihm auch all das Unheil, das der Krieg mit sich bringt: die Wolke der Speere, die dichte Maße der Geschosse, die daraus entstehende starke Finsternis, die alles undurchdringlich macht, die völlig dunkle Nacht, hervorgerufen durch die Menge der Pfeile, die infolge ihrer Dichtigkeit nicht mehr die Sonnenstrahlen durchdringen lassen, die Staubwolken, die nicht weniger als die Finsternis die Augen des Lichtes berauben, die Ströme von Blut, das Wehklagen der Fallenden, das Kriegsgeschrei der Kämpfenden, die Haufen, der Gefallenen, die mit Blut bespritzten Wagenräder, die Rosse, wie sie mitsamt den Reitern über die Menge der daliegenden Toten kopfüber dahinstürzen, den Erdboden, den ein völliges Durcheinander bedeckt. Es sind da zu sehen Blutlachen, Bogen und Geschosse, Hufe von Pferden und Köpfe von Menschen unmittelbar nebeneinander, desgleichen Menschenarme und Wagenräder7, da- S. 247 neben eine Beinschiene und ein durchstochener Oberkörper, Gehirnteile, noch am Schwerte klebend, und eine abgebrochene Lanzenspitze mit einem aufgespießten Auge. Man schildere ihm ferner die Gräuel der Seeschlacht, wie die Kriegsschiffe teils mitten im Meere verbrennen, teils mitsamt der Mannschaft untergehen, wie die Wasser brausen, die Seeleute lärmen, die Soldaten schreien, wie die Schaumblasen, ein Gemisch von Wellen und Blut, sich in alle Fahrzeuge hineinstürzen, wie die Toten auf dem Verdeck liegen, aber dann teils in die Tiefe des Meeres versinken, teils oben auf dem Wasser schwimmen und entweder an den Strand getrieben oder mitten in den Wogen hin- und hergeschleudert werden, um schließlich den Schiffen den Weg zu versperren. Nachdem man so [jenem jungen Manne] das Trauerspiel des Krieges genau vor Augen geführt hat, füge man noch die Leiden der Kriegsgefangenschaft hinzu und die Sklaverei, die schlimmer ist als jeglicher Tod, Ist man sodann mit der Schilderung zu Ende, so gebe man ihm die Weisung, sofort das Pferd zu besteigen und den Oberbefehl über das gesamte Heer zu übernehmen. Glaubst du wohl, jener Jüngling werde auch nur die bloße Beschreibung8 auszuhalten vermögen und nicht vielmehr gleich beim ersten Anblick seine Seele aushauchen?


  1. Ezech. 34, 17. ↩

  2. „ἀσύμφορον“. In manchen Ausgaben, so auch bei Migne, steht „ἀσύμφωνον“. ↩

  3. Es ist hier das zu Beginn des Vergleiches stehende „ὥσπερ“ zu ergänzen; das später folgende „ὡς“ bedeutet „ὥστε“ = „um zu". ↩

  4. Gemeint ist das in Buch I, 6 gemeldete Gerücht, daß Chrysostomus und Basilius zu Bischöfen erhoben werden sollten. ↩

  5. Manche Ausgaben fügen noch „ταλανὶξων, bejammern“ hinzu. ↩

  6. „δυσχωρείας“; in manchen Ausgaben ist „δυσχερείας“ zu lesen. ↩

  7. Statt „τροχόν“ lesen manche Ausgaben, so auch Migne, τράχηλον, Hals, Nacken“, was jedoch gar nicht in das von Chrysostomus beabsichtigte bunte und wirre Schlachtbild paßt. ↩

  8. "Nairn liest hier im Unterschiede von fast allen anderen Ausgaben „διοἰκησιν“ statt „διἠγησιν“. ↩

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