Einleitung.
S. 441 In einer Auswahl der vorzüglichsten patristischen Werke müssen ohne Zweifel auch die Briefe des heiligen Chrysostomus vertreten sein. Denn sie erheben gerechten Anspruch auf unser Interesse — als reichhaltige Quellen für die damalige Geschichte der Kirche, als Beiträge zur Charakteristik des ehrwürdigen Verfassers, als ergiebige Fundgruben christlicher Lebensweisheit, ihrer formalen Vorzüge nicht zu gedenken.
Ein Bischof voll apostolischer Kraft, Patriarch von Konstantinopel, unerreichter Meister in der kirchlichen Beredsamkeit, war der heilige Chrysostomus damals Hauptrepräsentant des kirchlichen Rechtes und kirchlichen Geistes. Seine Schicksale laufen vollständig parallel mit den Schicksalen der morgenländischen Kirche jener Zeit: und darum liefern manche seiner Briefe ein getreues Abbild ihres jeweiligen Zustandes. Man sieht hier die Versuche der Staatsgewalt, ränkevoller Weiber und verweltlichter Bischöfe, die Selbstständigkeit der Kirche zu untergraben, sieht S. 442 besonders durch schismatische, simonistische oder gewaltsam eingedrungene Bischöfe eine namenlose Verwirrung über die Heerde Christi hereinbrechen, sieht aber auch das Volk von den lebhaftesten Sympathien für Chrysostomus erfüllt und das Prinzip der kirchlichen Gemeinschaft, namentlich den innigen Zusammenhang mit dem apostolischen Stuhle auf’s Schönste bewährt.
Und was ist das für ein erhabener und zugleich liebenswürdiger Charakter, der sich in diesen Briefen abspiegelt! Dieser große Mann bleibt unter der Wucht der schwersten Leiden immer derselbe unbeugsame Vertheidiger des kirchlichen Rechtes, immer ein Bischof im vollsten Sinne des Wortes. Die mannigfachen Widerwärtigkeiten eines harten Exils, die Beschwerden der mühseligsten Reisen durch unwirthliche Gegenden, und zwar bei fortwährender Kränklichkeit, die Furcht vor den räuberischen Horden wilder Stämme und vor feindlich gesinnten Bischöfen, der Gram über das Verderben so vieler Gemeinden — Das alles ist nicht im Stande, seine Standhaftigkeit zu erschüttern, noch auch seine Ruhe und sein Gottvertrauen zu stören. Ja, er fühlt sich mitten in seinem Elend stark genug, um nicht nur seine Freunde in Konstantinopel durch ausführliche Trostschreiben zu ermuthigen, sondern auch sich mit großartigen Missionsplänen zu beschäftigen. Der dreizehnte Brief an Olympias gibt Andeutungen, wie sehr er sich die Reinerhaltung des Christenthums unter den Gothen und seine Verbreitung unter den Persern angelegen sein ließ.
Es ist leicht zu begreifen, daß die Briefe eines solchen Mannes, geschrieben während des Quasimartyriums einer dreijährigen Verbannung, sich vielfach zu Erbauungsschriften gestalteten. So ist es besonders mit den Briefen an Olympias, die einen reichen Schatz gesunder Aszese bergen und namentlich das Thema von der Heilsamkeit der Leiden in vielen Variationen und auf die ansprechendste Weise behandeln.
S. 443 Was die formale Seite der mitgetheilten Briefe angeht, so hat der „Goldmund“ auch hier seine Vorzüge als geistlicher Redner nicht verleugnet. Man vermißt weder die Meisterschaft in der Handhabung der Sprache, noch die oratorische Fülle, noch die wunderbare Fertigkeit in der Durchführung paradoxer Sätze. Zum Verstand und zum Gemüth spricht er mit derselben eindringlichen Kraft. Er zeigt sich auch hier als der feinste Kenner des menschlichen Herzens und als der gediegenste Erklärer der heiligen Schriften. Deßhalb verzeiht man ihm gerne die gewohnte Weitschweifigkeit des Ausdrucks und einige Mängel in der Disposition, die um so eher zu entschuldigen sind, weil er eben einen Brief und nicht eine streng gegliederte Abhandlung schreiben wollte. — Von den 238 auf uns gekommenen Briefen des heiligen Chrysostomus, die sämmtlich aus der Zeit seiner zweiten Verbannung (404—407) stammen, bieten wir hier nur die zwei Briefe an Papst Innozentius und die siebzehn an Olympias. Jene sind mehr als Geschichtsquellen, diese dagegen hauptsächlich als Erbauungsschriften von Werth. Die meisten andern sind weniger bedeutend nach Inhalt und Umfang. Die Zeit der Abfassung ist bei den meisten nicht mit Sicherheit festzustellen, weßhalb sie gewöhnlich in einer lediglich durch das Herkommen sanktionirten Ordnung abgedruckt werden. Wir haben im Allgemeinen die von Montfaucon in der Maurinerausgabe beobachtete Reihenfolge innegehalten und nur nach dem Vorgange einiger Herausgeber dem bei Montfaucon an vierter Stelle mitgetheilten Briefe an Olympias die sechszehnte angewiesen. Soll nämlich in etwa wenigstens die Zeit der Abfassung maßgebend sein, so ist diese Ordnung jedenfalls mehr berechtigt: Das beweis’t die Erwähnung des Buches: ὅτι τὸν ἑαυτὸν μὴ ἀδικοῦντα οὐδεὶς παραβλάψαι δύναται (Quod nemo laeditur nisi a seipso) und des Aufenthalts in Arabissus (16. Brief an Ol. § 4).
Der Text der Maurinerausgabe ist von Lomler (Rudolfstadt 1840) nach einem bis dahin unbenutzten Codex der S. 444 Münchener Bibliothek an manchen Stellen verbessert, übrigens wenig verändert worden. Durchgehends nach diesem rezensirten Text ist die vorliegende Übersetzung angefertigt. Wo es zum Verständniß erforderlich schien, sind Anmerkungen, häufiger jedoch kurze erklärende Zusätze in eckigen Klammern beigefügt.