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S. 261Betrübe dich also nicht und verliere den Mut nicht! Auch die Apostel waren ja für die einen ein „Geruch des Todes“, für die anderen ein „Geruch des Lebens“1 . Wenn nur du keinerlei Handhabe bietest, so bist du frei von aller Schuld. Leuchte also durch dein Leben, und kümmere dich nicht um die Reden der Bösen. Es gab ja noch niemand, gar niemand, dem die Tugend am Herzen gelegen wäre, und der nicht viele Feinde gehabt hätte. Das macht aber dem Tugendhaften gar nichts aus; er wird ob solcher Dinge nur in um so hellerem Lichte erglänzen. Beherzigen wir dies also, und behalten wir nur eines im Auge, in unserem eigenen Leben recht genau und gewissenhaft zu sein; auf diese Weise werden wir auch jene, die noch in Finsternis sitzen, zu diesem Leben führen. So groß ist eben die Macht dieses Lichtes, dass es nicht nur hienieden leuchtet, sondern diejenigen, die ihm folgen, auch hinüber ins Jenseits geleitet. Wenn jene nämlich bemerken, wie manche alles Irdische verachten, und sich nur auf die andere Welt vorbereiten, so werden sie unseren Werken mehr als all unseren Reden Glauben schenken. Wer wäre doch so töricht, dass er beim Anblick eines Menschen, der eben noch in Schwelgerei und Reichtum lebte, und auf einmal alles verlässt und voll freudiger Hoffnung bereit ist, Hunger und Armut und jegliche Entbehrung zu ertragen, Gefahren, Blutvergießen und Tod zu trotzen und allem, was einem Menschen Schrecken einflößen kann, wer wäre so töricht, frage ich, dass er daraus nicht einen klaren Beweis für das Dasein einer zukünftigen Welt entnähme? Wenn aber wir selbst uns mit irdischen Dingen abgeben, und allzu sehr in ihnen aufgehen, wie sollen da die Leute glauben, dass wir einer anderen Heimat zustreben? Und womit werden wir uns entschuldigen können. wenn die Furcht Gottes bei uns weniger vermag als menschlicher Ruhm bei den heidnischen Philosophen? Auch von ihnen haben ja einige auf ihr Eigentum verzichtet, und haben den Tod verachtet, um bei den Menschen angesehen zu sein; darum S. 262sind aber auch ihre Hoffnungen zunichte geworden.
Nachdem uns also so große Dinge verheißen worden sind, nachdem uns der Weg zu so hoher Lebensweisheit eröffnet worden ist, was können wir da zu unserer Rechtfertigung noch vorbringen, wenn wir nicht einmal soviel zu leisten vermögen, wie jene, und im Gegenteil uns und andere ins Verderben stürzen? Der Heide, der ein Gebot übertritt, schadet nicht soviel, als ein Christ, der das gleiche tut. Das ist ganz natürlich. Die Religion der Heiden ist eben schlecht, die unsere dagegen steht durch die Gnade Gottes selbst bei den Gottlosen in Achtung und Ansehen. Wenn uns darum die Heiden ganz besonders beschimpfen und ihrer bösen Rede besonderen Nachdruck verleihen wollen, so setzen sie noch Ausdrücke hinzu wie: und der will ein Christ sein; das würden sie nicht sagen, wenn sie keine hohe Meinung von unserer Lehre hätten. Oder hast du nicht gehört, welch erhabene Gebote Christus uns gegeben hat? Wie könntest du also auch nur eines derselben erfüllen, wenn du ohne Scham herumgehst, um Wucher zu treiben, Zinsen zu erjagen, Geschäfte zu machen, Herden von Sklaven zu kaufen, Silbergeschirr anzuschaffen, Güter und Häuser mit tausenderlei Zubehör zu erwerben? Und wäre das nur alles! Wenn du aber neben all diesen überflüssigen Sorgen auch noch Unrecht tust, deines Nachbarn Grundstücke verkürzest, anderen ihre Häuser nimmst, die Zahl der Armen vermehrst, ihren Hunger steigerst, wie solltest du da in diese Vorhalle des Himmels eintreten können?
Doch, du gibst auch zuweilen den Armen ein Almosen. Das weiß ich schon. Indes liegt auch darin wieder viel Fehlerhaftes. Denn du tust dies entweder aus Stolz, oder von den Leuten gesehen zu werden, so dass dir nicht einmal deine guten Werke Nutzen bringen. Was gäbe es aber Schrecklicheres, als selbst im Hafen noch Schiffbruch zu leiden? Um dich also davor zu bewahren, suche für deine guten Werke nicht von mir Lob zu ernten, damit du dafür Gott zum Schuldner habest. Er sagt ja: „Leihet euer Geld denen, von denen ihr nicht S. 263hoffet, es wieder zu bekommen“2 . Du hast also einen Schuldner? Warum lässest du ihn dann stehen und forderst die Schuld von mir, der ich ein armer, elender Mensch bin? Oder wird etwa dein Schuldner unwillig, wenn du die Schuld von ihm forderst? Ist er vielleicht arm? Oder weigert er sich, seine Schuld zu bezahlen? Siehst du denn seine unermeßlichen Schätze nicht? Bemerkst du nicht, wie unendlich freigebig er ist? An ihn also halte dich, von ihm fordere die Schuld zurück; er freut sich ja nur an solcher Forderung. Wenn er dagegen sieht, dass du von einem anderen forderst, was er selbst dir schuldet, so wird er das als Beleidigung aufnehmen, und dir überhaupt nichts mehr zurückgeben, sondern dir sogar Vorwürfe machen, und zwar mit Recht. Wann, wird er sagen, hast du mich jemals undankbar gefunden? Wo hast du mich arm gesehen, so dass du mich übergehen und dich an andere wenden müsstest? Dem einen hast du dein Geld geborgt, und von einem anderen forderst du es zurück? Wenn auch ein Mensch es erhalten hat, es war doch Gott, der es geben hieß; und er selbst will in erster Linie Schuldner und Bürge sein und bietet dir tausend Gelegenheiten, alles von ihm zurückzuverlangen. Missachte also nicht ein so großes Entgegenkommen und eine so günstige Gelegenheit, und suche nichts bei mir, der ich selbst nichts habe. Oder weshalb streichst du dich bei mir heraus, wenn du einmal einem Armen ein Almosen gibst? Hab etwa ich dir befohlen, zu geben? Hab etwa ich es dich geheißen, dass du es von mir zurückverlangst? Nein. Gott selbst hat gesagt: „Wer sich des Armen erbarmt, leiht Gott aus“3 . Gott hast du geborgt, auf ihn schreibe die Schuld. Doch gibt er dir nicht jetzt schon alles zurück. Und auch das tut er nur um deinetwillen. Solch ein Schuldner ist eben Gott. Bei ihm ist es nicht wie bei den meisten Menschen, die einfach das Geliehene sobald als möglich zurückzugeben suchen; er trachtet auch auf jede Weise, das, was er bekommen, an einem sicheren S. 264Orte zu hinterlegen. Deshalb gibt er einen Teil in diesem Leben zurück, den andern spart er fürs Jenseits auf.