10.
Nachdem wir also dies jetzt wissen, wollen wir die Barmherzigkeit recht hoch schätzen und viel Nächstenliebe zeigen, durch Almosen und werktätige Hilfe. Wenn wir also auf offener Straße jemand treffen, der recht elend und vom Unglück heingesucht ist, und wir ihm Geld geben können, so tun wir es; können wir ihn durch Worte trösten, lassen wir es uns nicht verdrießen. Auch ein einfaches Wort findet seinen Lohn, ja schon das bloße Mitgefühl. Das bestätigt uns der selige Job mit den Worten: „Ich aber weinte über jeden Unglücklichen, ich seufzte, wenn ich jemand in Not sah“1 . Wenn man aber schon für Tränen und Seufzer belohnt wird, so bedenke, wie groß erst der Lohn sein wird, wenn du dazu auch noch Trost spendest und dich auf andere vielfältige Weise um einen Unglücklichen bemühst! Waren ja doch auch wir Feinde Gottes! Und dennoch hat der Eingeborene uns erlöst, indem er sich selbst zum Mittler hergab, an unserer Stelle die Strafe auf sich nahm, für uns den Tod erlitt.
Beeilen also auch wir uns, die Gefallenen von ihrem tausendfachen Unheil zu befreien, und machen wir es nicht wie bisher, dass wir z.B. beim Anblick von solchen, sie sich gegenseitig in den Haaren liegen und zerzausen, hinstehen, uns freuen über fremde Schmach und diesem Teufelsschauspiel zusehen. Oder was gäbe es Gefühlloseres als das? Siehst du nicht, wie sie einander böse Reden zuwerfen, zu Tätlichkeiten übergehen, sich die Kleider zerreißen, einander Faustschläge ins Gesicht geben, und du bringst es über dich, ruhig daneben zu stehen? Ist es denn ein Bär, der also kämpft? ist es ein wildes Tier? ist es eine Schlange? Nein, ein Mensch, der in allem dir gleich ist, ein Bruder, ein Glied deines Geschlechts! Darum schau ihnen nicht zu, sondern bringe sie auseinander! Freue dich nicht über sie, sondern weise sie zurecht! Verleite nicht auch S. 265noch andere zu solcher Schmach, sondern hindere und trenne vielmehr die Streitenden. Nur diejenigen, die kein Schamgefühl besitzen, die gemeinen Charakters sind, die zum Abschaum der Menschen gehören und unvernünftig geworden sind wie Tiere, die mögen sich an solchen Vorkommnissen freuen. Du siehst, wie ein Mensch sich schimpflich benimmt, und denkst nicht daran, dass du ebenso handelst? Du trittst nicht dazwischen und trennst nicht die Streiter des Teufels, machst der menschlichen Schmach kein Ende? Ja, sagst du, damit ich selber auch noch Schläge bekomme! Oder willst du mir wirklich so etwas befehlen? Nein, es wird dir durchaus nichts geschehen! Und selbst wenn dir das passierte, du würdest dadurch nur zum Märtyrer werden, weil du um Gottes willen zu leiden hattest. Wenn du aber Furcht hast, dich Schlägen auszusetzen, so bedenke, dass dein Herr kein Bedenken trug, um deinetwillen das Kreuz auf sich zu nehmen. Jene sind wie berauscht und umnebelt, da sie ganz vom Zorne beherrscht und geleitet werden, und eben deshalb brauchen sie jemand, der selbst vernünftig ist, und ihnen hilft, und zwar braucht dies der Beleidiger so gut wie der Beleidigte; der eine, damit er aus seiner üblen Lage befreit werde, der andere, damit er von seinen Misshandlungen abstehe.
Gehe also hinzu und reiche ihm die Hand, du, der Nüchterne dem Betrunkenen. Es gibt nämlich auch einen Zornesrausch, und der ist noch schlimmer, als Trunkenheit durch Weingenuss. Siehst du nicht, wie die Seeleute es machen, wenn sie jemand Schiffbruch leiden sehen? Sie spannen die Segel aus und kommen in aller Eile herbei, um ihre Kollegen den Wogen zu entreißen. Wenn aber Berufsgenossen schon solche Hilfsbereitschaft zeigen, so geziemt es sich um so mehr, dass auch diejenigen das alles tun, die von Natur schon Brüder sind. Auch in unserem Fall stehen wir ja vor einem Schiffbruche, der noch schlimmer ist als der andere. Denn entweder lästert da der Misshandelte, und verliert so die ganze Gelegenheit zum Verdienst; oder er flucht in seinem Zorn und stürzt so ebenfalls in die Hölle; oder er verwundet, ja tötet seinen Gegner, und auch dann nimmt er das gleiche Ende. Geh also und S. 266mache dem Unheil ein Ende, rette diejenigen, die schon versinken, geh hinaus in die stürmende See, mach dem teuflischen Schauspiel ein Ende, nimm jeden von beiden zur Seite, ermahne sie, ihren brennenden Zorn zu bändigen, und die stürmischen Wogen zu besänftigen. Wenn aber dann die Flamme nur um so höher emporschlägt und der Feuerbrand um so stärker wird, so fürchte dich nicht. Da sind viele, die dir helfen und mit Hand anlegen, wenn du nur den Anfang machst, und vor allen anderen hilft dir der Her, der Gott des Friedens. Und wenn du zuerst den Feuerbrand zu löschen beginnst, dann werden dir viele beistehen, und du wirst den Lohn für das Gute erhalten, das sie tun. Höre, wie Gott die Juden ermahnte, die nur an Irdisches dachten: „Wenn du“, sagte er, „die Zugtiere deines Feindes fallen siehst, so gehe nicht vorbei, sondern hilf ihnen auf“2 . Und doch, viel leichter, als ein gefallenes Paar Zugtiere wieder aufzurichten, ist es, streitende Menschen zu beruhigen und auseinander zu bringen. Wenn man aber schon dem Esel seines Feindes wieder aufhelfen muss, dann um so mehr der Seele eines Freundes, zumal wenn sie einen noch viel schlimmeren Fall getan. Die Seelen fallen ja nicht in den Straßenkot, sondern ins höllische Feuer, weil sie die Last des Zorns nicht zu tragen vermögen. Und du gehst herzlos und ohne Erbarmen vorüber an deinem Bruder, der unter der Last zusammengebrochen ist, während schon der Teufel daneben steht und den Feuerbrand herrichtet! So etwas darf man ungestraft nicht einmal dann tun, wenn es sich nur um ein Tier handelt.