3.
Wer aber genau zusehen will, wird noch eine dritte Art finden, wie er das Gesetz erfüllte. Und welches wäre diese? Die Art und Weise, wie er sein neues Gesetz gab, das er eben zu verkünden im Begriffe stand. Durch seine Worte hat er nämlich das Frühere nicht aufgehoben, sondern nur bestätigt und erfüllt. Das Verbot, eine Feindschaft zu haben, hebt ja das Verbot, einen Mord zu begehen, nicht auf, sondern erfüllt es nur und bekräftigt es noch weit mehr. Ebenso verhält es sich mit allem anderen. Während also der Herr die erste S. 276Grundlage hierzu hatte legen können, ohne Verdacht zu erregen, gebraucht er solche Vorsichtsmaßregeln, sobald er anfing, durch die Nebeneinanderstellung des alten und des neuen Gesetzes in den ausgesprochenen Verdacht der Gegnerschaft zu jenem zu kommen. In verborgener Weise hatte er ja in seinen Reden das gleiche schon früher festgelegt. Denn das: „Selig sind die Sanftmütigen“ ist doch dasselbe wie:„Du sollst nicht zürnen“; das „Selig sind diejenigen, die ein reines Herz haben“ ist gleichbedeutend wie: „Du sollst keine begehrlichen Blicke werfen nach einem Weibe“; keine irdischen Schätze anhäufen stimmt zu dem: „Selig sind die Barmherzigen“; trauern, verfolgt und geschmäht werden ist dasselbe wie „durch das enge Tor eintreten“; Hunger und Durst leiden nach Gerechtigkeit nichts anderes, als was er nachher sagte: „Was immer ihr wollet, dass euch die Menschen tun, das tuet auch ihr ihnen“1 . Auch da er den Friedfertigen preist, sagt er wieder so ziemlich dasselbe, wie da er befiehlt, die Opfergabe stehen zu lassen, sich schleunigst mit dem Beleidigten auszusöhnen und dem Gegner wohlwollend gesinnt zu sein. Nur hat er dort den Lohn festgesetzt für die Folgsamen, hier die Strafe für die Zuwiderhandelnden. Darum sagte er auch dort, die Sanftmütigen würden die Erde besitzen; hier dagegen: Wer seinen Bruder einen Toren schilt, wird des höllischen Feuers schuldig sein. Dort sagt er: Die Herzensreinen werden Gott anschauen, hier: Wer unkeusch ist im Blicke wird dem Ehebrecher gleich gerechnet. Dort nannte er die Friedfertigen: Kinder Gottes, hier flößt er auf andere Art Furcht ein mit den Worten: „Auf dass euer Widersacher euch nicht dem Richter überantworte“. Ebenso hat er auch im vorhergehenden die Bußfertigen und die Verfolgten gelobt; im Nachfolgenden hat er ganz dasselbe im Auge, droht aber denen, die nicht diesen Weg wandeln, den Untergang: wer auf dem breiten Wege wandelt, wird darauf zugrunde gehen.
Aber auch die Worte: „Ihr könnt nicht Gott und zugleich dem Mammon dienen“2 scheinen mir S. 277gleichbedeutend zu sein mit dem: „Selig sind die Barmherzigen“ und „die hungern nach Gerechtigkeit“. Wie ich aber schon gesagt habe, zuerst bestätigt er den scheinbaren Widerspruch, sobald er beginnt, die gleiche Sache deutlicher zu sagen, und nicht bloß deutlicher zu sagen, sondern auch noch ziemlich vieles zu dem Gesagten hinzuzufügen. Er will ja, dass man nicht bloß barmherzig sei, sondern er heißt uns sogar den Mantel hergeben. Und nicht bloß sanftmütig sollen wir sein, sondern dem, der uns schlagen will, auch noch die andere Wange hinreichen. Das ist also, wie gesagt, der Grund, weshalb er dies nicht bloß einmal, sondern zweimal sagt. Zu den Worten: „Glaubet nicht, dass ich gekommen bin,3 aufzuheben“ fügt er nämlich hinzu:„Ich bin nicht gekommen, es aufzuheben, sondern es zu erfüllen.“
V.18: „Denn wahrlich sage ich euch: Wenn auch Himmel und Erde vergehen, von dem Gesetz wird nicht ein Jota und kein Strich vergehen, bis alles erfüllt ist.“
Die Worte des Herrn haben diesen Sinn: Es ist unmöglich, dass das Gesetz unerfüllt bleibe; im Gegenteil, selbst die geringste Vorschrift muss ausgeführt werden. Er selbst hat es so gemacht und das Gesetz mit größter Genauigkeit beobachtet. Hier deutet er uns aber an, dass auch die ganze Welt umgebildet werden solle. Und das bemerkte er nicht bloß so nebenbei, sondern in der Absicht, seine Zuhörer aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass er mit Recht eine neue Lebensordnung einführe, da ja doch die ganze Schöpfung umgeändert, und das gesamte Menschengeschlecht in eine neue Heimat berufen und zu einem höheren Leben vorbereitet werden sollte.
V.19: „Wenn also irgend jemand auch nur eine der geringsten dieser Vorschriften aufhebt, und so die Menschen lehrt, so wird er der letzte genannt werden im Himmelreich.“
Nachdem sich also der Herr von dem bösen Verdachte gereinigt und diejenigen zum Schweigen gebracht, die ihm widersprechen wollten, da erst fängt S. 278er an, ihnen Furcht zu machen, und bringt eine gar gewaltige Drohung vor betreffs seiner zukünftigen Gesetzgebung. Dass nämlich seine Worte nicht vom Alten Testament zu verstehen sind, sondern von den Satzungen, die er selber geben wollte, ergibt sich aus dem Folgenden:
V.20: „Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“
Hätte also die Drohung des Herrn dem alttestamentlichen Gesetze gegolten, wie konnte er da sagen:„Wenn sie nicht größer ist“? Wer nämlich das gleiche tat wie jene, der konnte eben überhaupt nicht über die Gerechtigkeit des Gesetzes hinauskommen. Worin bestand aber dann dieses „größer sein“? Darin, dass man niemanden zürne, dass man keine Frau mit unzüchtigem Blicke ansieht.