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Œuvres Jean Chrysostome (344-407) In Matthaeum homiliae I-XC Kommentar zum Evangelium des hl. Matthäus (BKV)
Sechzehnte Homilie. Kap V. V.17-26.

4.

Weshalb hat aber der Herr diese Vorschriften als die geringsten bezeichnet, obwohl sie so groß und erhaben sind? Weil er selbst diese Gesetze einführen wollte. Weil er nämlich sich selbst erniedrigte und gar oft bescheiden von sich redete, so machte er es auch mit seiner Gesetzgebung; er gab uns damit die Lehre, auch für uns selbst in gleicher Weise überall maßvoll und bescheiden zu sein. Übrigens redet er auch deshalb so bescheiden, weil er noch im Verdachte eines Neuerers zu stehen schien. Unter den Worten: Der Geringste im Himmelreich" darfst du sodann nichts anderes verstehen, als Hölle und Verdammnis. Mit "Himmelreich" will er nämlich nicht bloß das Weltende bezeichnen, sondern auch den Tag der Auferstehung und seine furchtbare Wiederkunft. Wie wäre es denn sonst gerecht, dass derjenige, der seinen Bruder einen Narren schilt und nur ein einziges Gebot übertritt, in die Hölle kommt, während ein anderer, der sich um gar kein Gebot kümmert und auch andere dazu verleitet, in den Himmel gelangte? Das ist also nicht der Sinn jener Worte, sondern der Herr will sagen, ein solcher werde an jenem Tage1 der S. 279letzte sein, verworfen und verstoßen. Wer aber an diesem Tage der letzte ist, wird sicher in die Hölle stürzen. - Da Christus Gott war, so wusste er eben zum voraus, dass viele Menschen lau und gleichgültig sein würden und dass gar manche seine Worte für eine bloße Übertreibung ansehen, a n seinen Gesetzen herumdeuteln und sagen werden: Also soll einer schon gestraft werden, wenn er jemand einen Toren schilt? und man soll schon ein Ehebrecher sein, wenn man jemand einen bloßen Block zuwirft? Um also dieser Gleichgültigkeit entgegenzutreten, drohte er beiden mit den schwersten Strafen, sowohl denen, die das Gesetz übertreten, wie denen, die andere dazu verleiten.

Da wir also jetzt seine Strafandrohungen kennen, wollen wir seine Vorschriften weder selbst übertreten, noch jene, die sie beobachten wollen, davon abhalten."Wer sie dagegen hält und lehrt, wird groß genannt werden." Wir müssen nämlich nicht bloß auf unseren eigenen Nutzen bedacht sein, sondern auch auf den der anderen. Auch der Lohn wird ja nicht der gleiche sein für den, der nur sich selber auf dem rechten Wege hält, wie für den, der mit sich auch noch einen anderen dahin führt. Wie das bloße Lehren ohne das Vollbringen das Gericht bringt über den Lehrer ("du lehrst einen anderen", sagt der hl. Paulus,"und dich selber lehrst du nicht?"2), so mindert es auch den Lohn, wenn man zwar selber das Gesetz beobachtet, dagegen andere nicht dazu anleitet. Es muss also beides voll und ganz getan werden; man muss zuerst sich selbst vervollkommnen, und dann auch anderen seine Fürsorge zuwenden. Darum hat der Herr auch selbst das Gesetz zuerst beobachtet und dann erst andere gelehrt, und hat damit gezeigt, dass man nur auf diese Weise erfolgreich lehren kann, anders aber nicht. Man würde ja sonst einem solchen nur antworten: "Arzt, heile dich selbst"3 . Wer nämlich sich selbst nicht belehren kann und dabei andere zu bessern sich unterfängt, wird viele Spötter finden; oder vielmehr, ein solcher wird überhaupt nicht S. 280imstande sein, andere zu belehren, da seine eigenen Taten gegen ihn sprechen. Ist er aber nach beiden Seiten hin tadellos, so wird er im Himmelreich groß genannt werden.

V.20: "Denn ich sage euch, wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen."

Hier versteht der Herr unter Gerechtigkeit die Gesamtheit aller Tugenden, wie er auch von Job gesagt hatte: "Und er war ein Mann, tadellos und gerecht"4 . Im gleichen Sinne nennt auch Paulus denjenigen gerecht, von dem er sagte, es gelte für ihn nicht einmal das Gesetz: "Für den Gerechten", schreibt er, "ist das Gesetz nicht gegeben"5 . Auch an vielen anderen Stellen kann man diesen Ausdruck zur Bezeichnung der Gesamtheit aller Tugenden angewendet finden. Du aber beachte, um wieviel stärker die Gnade6 ist, da der Herr will, dass schon seine ungebildeten Schüler besser seien, als selbst die Lehrmeister im Alten Testament. Er meinte nämlich hier mit den Schriftgelehrten und Pharisäern nicht einfachhin die Gesetzesübertreter, sondern die Rechtschaffenen; wenn sie nämlich das nicht wären, so hätte er auch nicht gesagt, sie besäßen Gerechtigkeit, und hätte nicht eine Tugend, die nicht vorhanden ist, einer wirklich vorhandenen an die Seite gestellt. Außerdem beachte auch, wie ehrenvoll er hier das Alte Testament behandelt, indem er einen Vergleich anstellt zwischen ihm und dem Neuen. Das beweist, dass beide verwandt und verschwistert sind; denn die Dinge, die sich nur durch ein Mehr und ein Weniger unterscheiden, gehören doch zur selben Familie.

Der Herr will also die Bedeutung des Alten Testamentes nicht vermindern, sondern erhöhen. Wäre dasselbe vom Bösen gewesen, so hätte der Herr nicht einen höheren Grad von Güte angestrebt, hätte es nicht verbessert, sondern verworfen. Wenn dies aber so ist, fragst du, wie kommt es dann, dass es nicht zum Himmelreich S. 281führt? Nur diejenigen führt es nicht dahin, die nach der Ankunft Christi leben, da eben sie größere Gnade empfangen haben und zu größeren Kämpfen berufen sind. Seine früheren Anhänger dagegen führt es alle dahin. Es werden ja "viele von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang kommen und werden ruhen in Schoße Abrahams, Isaaks und Jakobs"7 . Auch Lazarus, der so hohe Siegespreise empfing, sehen wir in deren Schoß ruhen8 . Ebenso sind alle, die sich im Alten Testamente besonders auszeichneten, gerade durch dasselbe berühmt geworden. So hätte denn auch Christus dasselbe bei seiner Ankunft nicht voll und ganz erfüllt, wenn es schlecht und fremden Ursprungs gewesen wäre. Denn hätte er dies nur deshalb getan, um die Juden an sich zu ziehen, und nicht um dessen Verwandtschaft und Übereinstimmung mit dem Neuen Testament zu zeigen, so frage ich: weshalb hat er dann nicht auch die Satzungen und Gebräuche der Heiden beobachtet, um auch diese anzulocken


  1. der allgemeinen Auferstehung ↩

  2. Röm 2,21 ↩

  3. Lk 4,23 ↩

  4. Ijob 1,1 ↩

  5. 1 Tim 1,9 ↩

  6. im Neuen Bunde ↩

  7. Mt 8,11 ↩

  8. Lk 16 ↩

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