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Œuvres Jean Chrysostome (344-407) In Matthaeum homiliae I-XC Kommentar zum Evangelium des hl. Matthäus (BKV)
Sechzehnte Homilie. Kap V. V.17-26.

5.

Aus all dem geht also klar hervor, dass das Alte Testament nicht deshalb nicht zum Himmel führt, weil es etwa schlecht wäre, sondern weil die Zeit für ein höheres Gesetz gekommen war. Wenn aber dann das Alte Testament nicht soviel1 Kraft verleihen kann wie das Neue, so ist auch das noch kein Beweis, dass es schlecht ist; sonst müsste man ja auch vom Neuen dasselbe sagen. Denn die Erkenntnis, die dieses Vermittelt, ist im Vergleich zu der, die unser im Himmel erwartet, nur gering und unvollkommen, und muss weichen, wenn jene eintritt. „Denn“, sagt der hl. Paulus,„ wenn die Vollendung kommt, dann muss alles Stückwerk verschwinden“2 . So ging es dem Alten Testament, als das Neue kam. Dadurch setzen wir aber seinen Wert durchaus nicht herab, denn auch der Neue Bund hört auf, wenn wir einmal im Himmel sind. „Denn dann“, heißt es, „wird alles Stückwerk verschwinden.“ Aber gleichwohl sagen wir, dass es etwas Großes ist.

S. 282Weil also der Lohn größer ist und reicher auch die Gnade des Heiligen Geistes, so verlangt es mit Recht auch unsererseits größerer Anstrengung. Uns ist ja nicht ein Land verheißen, das von Milch und Honig fließt, kein langes Alter und reicher Kindersegen, nicht Brot und Wein, Schafund Rinderhürden; nein, unser harrt der Himmel und sein Glück, wir werden Kinder Gottes sein und Brüder seines Eingeborenen, gemeinsam unser Erbe besitzen, mit ihm Ruhm und Herrschaft teilen und tausend andere Gaben empfangen. Dass wir aber auch größere Gnadenhilfe erlangt haben, kannst du vom hl. Paulus vernehmen, der da sagt: „Keine Verdammung also gibt es jetzt für diejenigen, die in Jesus Christus sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geiste. Denn das Gesetz des leben spendenden Geistes hat mich befreit von dem Gesetz der Sünde und des Todes“3 . So hat also der Herr den Gesetzesverächtern gedroht, denen aber, die auf dem rechten Wege wandeln, großen Lohn verheißen und hat gezeigt, dass er an uns mir Recht einen strengeren Maßstab anlegt als dies früher geschehen. Darauf beginnt er denn, sein eigenes Gesetz zu verkünden, nicht ohne alle Vorbereitung, sondern erst, nachdem er es dem Gesetze des Alten Bundes an die Seite gestellt. Damit wollte er zwei Dinge zeigen, erstens, dass er seine Satzungen gibt, nicht im Gegensatz, sondern in vollster Übereinstimmung mit den früheren Gesetzen, zweitens, dass er sie mit Recht und ganz zur richtigen Zeit zu den anderen hinzufügt. Damit ihr dies aber noch deutlicher einsehet, wollen wir die Worte des Gesetzgebers selber hören. Was sagt er also?

V.21: „Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten.“

Zwar ist er es selbst gewesen, der jene Gebote gegeben; aber vorläufig spricht er in unpersönlicher Redeweise. Hätte er nämlich gesagt: Ihr habt gehört, dass ich zu den Alten gesagt habe, so hätten seine Worte S. 283keine Zustimmung gefunden, sondern bei all seinen Zuhörern Anstoß erregt; oder wenn er gesagt hätte: Ihr habt gehört, dass den Alten von meinem Vater befohlen wurde, und dann hinzugefügt hätte:; Ich aber sage euch, so wäre der Schein der Anmaßung noch größer gewesen. So sagt er einfach nur dies und bezweckte damit bloß das eine, zu zeigen, dass seine Redeweise ganz den Umständen entsprach. Durch die Worte: „dass den Alten gesagt worden ist“ deutet er an, dass es schon lange her sei, dass sie dieses Gebot erhalten hatten. Das tat er aber, um diejenigen Zuhörer zu beschämen, die da zögerten, die höheren Satzungen anzunehmen; so wie etwa ein Lehrer zu einem faulen Jungen sagt: Weißt du denn nicht, wieviel Zeit du schon auf das Erlernen der Buchstaben verwendet hast? Darauf wollte auch der Herr anspielen durch die Erwähnung der Alten, um so ihre Aufmerksamkeit auf Höheres zu lenken. Er wollte gleichsam sagen: Ihr hattet Zeit genug, euch damit abzugeben; jetzt heißt es zu höheren Dingen übergehen.

Sehr gut war es auch, dass er die Reihenfolge der Gebote nicht durchbrochen, sondern zuerst mit dem anfing, mit dem auch das alte Gesetz begonnen hatte; auch das musste er ja tun, wenn er die beiderseitige Übereinstimmung zeigen wollte.

V.22: „Ich aber sage euch, wer seinem Bruder grundlos zürnt, wird des Gerichtes schuldig sein.“

Siehst du, wie vollkommen seine Gewalt ist? Siehst du, wie seine Haltung wirklich eines Gesetzgebers würdig ist? Welcher Prophet hat je in solchem Tone geredet? Welcher Gerechte? Welcher Patriarch? Keiner! Vielmehr hieß es nur immer: „Also spricht der Herr.“ Ganz anders der Sohn. Jene brachten eben die Botschaft des Herrn; er diejenige des Vaters. Wenn ich aber sage des Vaters, so sage ich damit auch seine eigene. „Denn“, sagt er selbst, „das Meine ist Dein, und das Deine mein“4 . Sie verkündeten das Gesetz denen, die gleich ihnen Gottes Knechte waren; er befahl seinen eigenen Untertanen.

S. 284Fragen wir also jene, die das Gesetz5 verwerfen: das Gebot niemand zu zürnen, widerspricht es dem anderen, niemand zu töten; oder ist es nicht vielmehr dessen Vollendung und zugleich die Vorbereitung zu ihm? Es ist doch ganz klar, dass das eine Gebot die Ergänzung des anderen ist und eben deshalb höher steht als jenes. Wer sich nämlich vom Zorne nicht beherrschen lässt, wird um so eher von einem Morde abstehen; wer seinen Unmut zügelt, wird um so eher seine eigenen Hände bemeistern. Der Zorn ist ja die Ursache des Mordes. Wer also die Wurzel abschneidet, tötet dadurch um so sicherer auch die Zweige; oder vielmehr, er macht es überhaupt unmöglich, dass Wurzeln entstehen.


  1. moralische ↩

  2. 1 Kor 13,10 ↩

  3. Röm 8,12 ↩

  4. Joh 17,10 ↩

  5. des Alten Bundes ↩

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