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In diesem Sinne hat also Christus jene Satzungen für böse erklärt; nicht um zu zeigen, dass der Alte Bund vom Teufel stamme, sondern um uns durch einen sehr starken Ausdruck von etwas abzubringen, was im Alten Bunde seine Nützlichkeit besaß. Auch waren es hier die Jünger, zu denen er so redete. Dagegen hat er den unempfindsamen Juden, die starr am Hergebrachten festhielten, die Stadt1 durch Androhung von Kriegsgefangenschaft unzugänglich gemacht, so wie2 mit einer bitteren Salbe einreibt. Da aber nicht einmal das sie abzuhalten vermochte, sie vielmehr die Stadt wiederum sehen wollten, wie Kinder, die nach der Mutterbrust zurückverlangen, so hat er sie zuletzt ganz ihren Blicken entzogen, hat sie zerstört und ihre meisten Einwohner fern von ihr fortgeführt. Auch in der S. 317Landwirtschaft schließen ja viele die jungen Kälber ein, i, sie mit der Zeit der Milch zu entwöhnen.
Hätte aber das Alte Testament den Teufel zum Urheber, so hätte dasselbe die Juden nicht vom Götzendienst abgehalten, sondern im Gegenteil dazu angeleitet und ihn begünstigt. Das war es ja, was der Teufel wollte. Nun sehen wir aber, dass das Alte Testament das Gegenteil davon bewirkte. Auch wurde gerade der Eid selbst im Alten Bunde deshalb vorgeschrieben, damit keiner bei den Götzenbildern schwöre. Darum heißt es: „Ihr sollt bei dem wahren Gott schwören“3 .Das Gesetz hat also nicht wenig, sondern im Gegenteil sehr viel Gutes gestiftet. Die Menschen aber dann an feste Nahrung zu gewöhnen, war den Bemühungen des Erlösers vorbehalten. Wie nun, fragst du, ist also das Schwören nicht vom Bösen? Ganz gewiss ist es vom Bösen. Aber erst jetzt, nachdem wir so erhabene religiöse Weisheit empfangen; damals aber nicht. Indes, wendest du ein, wie ist es möglich, dass dieselbe Sache einmal gut und einmal böse sei? Ich frage aber umgekehrt: Warum sollte eine Sache nicht einmal gut und einmal böse sein, wo doch alle Dinge uns Beispiele hierfür bieten, die Künste, die Früchte, überhaupt alles? An unserer eigenen Natur kannst du dies zu allererst bewahrheitet finden. Sich tragen zu lassen ist ganz gut für das erste Kindesalter; später wird es schädlich. Vorgekaute Nahrung genießen, passt für den Anfang unseres Lebens, später empfinden wir den stärksten Ekel dagegen. Nur von der Milch leben und sich der Mutterbrust zuwenden, ist nützlich und heilsam im Anfang, nachher ist es schädlich und ungesund.
Siehst du also, wie dieselbe Sache je nach der Verschiedenheit der Zeit gut oder schädlich erscheint? Den Kinderrock zu tragen, ist ja ganz schön für einen ganz kleinen Jungen; ist er aber ein Mann geworden, so wird dies eine Schade für ihn. Willst du aber umgekehrt sehen, wie das, was für den Mann passt, bei einem Kinde nicht am Platze ist? Gib dem Kinde ein Mannskleid, S. 318und alles würde zu lachen anfangen; ja es wäre sogar recht gefährlich für das Kind, da es auf diese Weise beim Gehen gar häufig zu Fall käme. Oder lass es sich mit Politik befassen, mit Handel, mit Aussaat und Ernte, und es wird wiederum großes Gelächter geben. Doch wozu bringe ich diese Beispiele? Hat ja selbst ein Mord, den doch alle als Frucht des Bösen anerkennen, zur rechten Zeit begangen, dem Phinees die Ehre des Priestertums verschafft4 .Dass aber der Mord ein Werk des Bösen ist, sagt uns der Herr mit den Worten: „Ihr wollt die Werke eures Vaters tun; der war ein Menschenmörder von Anbeginn“5 . Aber auch Phinees hat einen Menschen getötet: „Und es ward ihm als gute Tat angerechnet“6 . Ja Abraham hat nicht bloß einen Menschen umgebracht, sondern wollte, was noch weit schlimmer ist, sein eigenes Kind töten, und ihm ward es noch viel höher angerechnet. Petrus hat den Tod von zwei Menschen verursacht7 , und doch war es eine Gottestat. Prüfen wir also nicht einfach bloß die Vorkommnisse an sich, sondern untersuchen wir auch alles andere recht genau, die Zeit, die Ursache, die Absicht, die Verschiedenheit der Personen, und was immer sonst noch dabei in Betracht kommen mag. Anders können wir den wahren Sachverhalt nicht in Erfahrung bringen. Auch müssen wir uns bemühen, wenn wir doch schon Anteil am Himmelreich erlangen wollen, etwas mehr zu tun, als was im Alten Bunde vorgeschrieben war, da wir sonst unmöglich in den Himmel kommen können. Wenn wir nur nach dem Maßstabe des Alten Testamentes leben, so werden wir außerhalb dieses Vorhofes zu stehen kommen. „Denn, wenn eure Rechtschaffenheit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen“8 .Allein trotz dieser Drohung gibt es Leute, die jenen Grad von Gerechtigkeit nicht nur nicht übertreffen, sondern sogar hinter ihm zurückbleiben. S. 319Sie schrecken nicht nur vor Eiden nicht zurück, sondern nicht einmal vor Meineiden; weit entfernt, ihren Blick von unkeuschen Dingen abzuwenden, heften sie ihm im Gegenteil sogar auf die unschamhafte Tat selbst, ja, sie erlauben sich unbedenklich alles, was irgendwie verboten ist. Ihrer wartet aber auch nur eines, der Tag der Rache, an dem sie die Strafe für ihre Missetaten in vollstem Maße empfangen werden. Das allein ist das Ende derer, die in Schlechtigkeit und Sünde ihr Leben beschließen. An ihnen muss man wirklich verzweifeln, und kann nichts anderes mehr für die erwarten, als die Strafe der Hölle. Nur solange man am Leben ist, kann man eben mit Leichtigkeit kämpfen, siegen und den Siegeskranz erlangen.