5.
Stürze dich also nicht auf einen, der am Boden liegt, habe vielmehr Mitleid mit ihm. Wenn wir einen sehen, der das Gallenfieber hat, von Schwindel befallen ist und diese schlechten Säfte ausspeien muss, so reichen wir ihm ja auch die Hand und stützen ihn in seinem Fieberschauer, und wenn wir auch das Kleid dabei beschmutzen, wir achten es nicht, sondern sind nur darauf bedacht, wie wir denselben aus seiner schweren Not erretten können. Machen wir es also auch bei den Zornmütigen so. Stützen wir sie, wenn sie ihre Zornesgalle ausspeien und wie von Fieberhitze geschüttelt werden, und lassen wir sie nicht eher los, als bis sie all die S. 334schlechten Stoffe von sich gegeben haben! Dann wird dir ein solcher auch den größten Dank wissen. Wenn er es einmal überstanden hat, dann wird er klar erkennen, aus welch schlimmer Lage du ihn befreit hast. Und was rede ich von seinem Dank? Gott selbst wird dich unverzüglich belohnen und dir mit tausendfachen Gnaden vergelten dafür, dass du deinen Bruder aus schwerer Krankheit errettet hast; auch wird jener dich ehren wie seinen Herrn und die größte Achtung hegen vor deiner Güte. Weißt du nicht, wie die Frauen, die in Wehen liegen, diejenigen beißen, die ihnen beistehen, und doch empfinden diese keinen Schmerz; oder vielmehr sie empfinden ihn, aber tragen ihn mutig und haben Mitleid mit den anderen, die in Geburtswehen liegen und sich winden. Dieses Beispiel ahme auch du nach, und sei nicht weichlicher als Frauen. Wenn nämlich diese Frauen1 geboren haben,2 dann werden sie deine Mannhaftigkeit anerkennen.
Wenn aber diese Gebote hart sind, so bedenke, dass Christus deshalb in die Welt gekommen ist, um sie in unsere Herzen einzupflanzen, und uns für Feind und Freund nützlich zu machen. Darum befiehlt er ja auch beide zu vergessen; die Brüder, wo er sagt: „Wenn du deine Gabe darbringst“; die Feinde, wenn er befiehlt, sie zu lieben und für sie zu beten. Doch leitet er uns nicht bloß durch das Beispiel Gottes hierzu an, sondern auch durch das Gegenteil. Denn, sagt er:
V.46: „Wenn ihr diejenigen liebet, die euch lieben, welchen Lohn werdet ihr haben; tun nicht auch die Zöllner desgleichen?“
Dasselbe sagt auch der hl. Paulus: „Ihr habt im Kampfe gegen die Sünde noch nicht bis auf Blut widerstanden“3. Wenn du also so handelst, dann stehst du auf Seiten Gottes; tust du es nicht, so stehst du auf Seiten der Zöllner. Siehst du, wie der Unterschied unter den Geboten nicht so groß ist, wie der unter den Personen? Achte also nicht auf die Schwierigkeit des S. 335Gebotes; denke vielmehr auch an den Siegespreis, und erwägen wir, wem wir bei richtigem Verhalten ähnlich werden, und wem gleichgestellt, wenn wir sündigen? Christus befiehl uns also, mit unserem Bruder uns zu versöhnen, und nicht eher von ihm abzustehen, als bis wir der Feindschaft ein Ende gemacht haben. Wenn er aber von allen ohne Ausnahme redet, so unterwirft er uns deshalb keinem Zwang, sondern verlangt nur so viel, als an uns liegt, und erleichtert uns auch dadurch die Haltung des Gesetzes. Zuvor hatte er nämlich gesagt: „Sie haben die Propheten verfolgt, die vor euch waren“; doch wollte er nicht, dass die Seinen sich deshalb feindlich gegen die Juden benähmen; deshalb schreibt er vor, diejenigen, die solches tun, nicht nur zu ertragen, sondern sie sogar zu lieben.
Siehst du also, wie er den Zorn und die Gier nach Fleischeslust, nach Geld, nach Ruhm und den Dingen des irdischen Lebens mitsamt der Wurzel ausrottet? Er hat dies zwar schon von Anfang an getan, weit nachdrücklicher aber jetzt. Denn, wer arm ist, sanftmütig und bußfertig, der vermeidet eben den Zorn; wer gerecht ist und barmherzig, der macht die Habsucht unmöglich; wer ein reines Herz hat, ist frei von böser Lust; wer Verfolgung, Beschimpfung und Verleumdung erfährt, der übt ohnehin die vollständige Verachtung aller zeitlichen Dinge und hält sich rein von Hochmut und Ehrgeiz. Nachdem also der göttliche Heiland den Zuhörer von diesen Fesseln befreit und gleichsam zum Kampfe gesalbt hat, geht er nochmals von einer anderen Seite und mit noch größerer Entschiedenheit an die Ausrottung dieser Laster. Den Anfang hat er mit dem Zorne gemacht, hat sämtliche Wurzeln dieser Leidenschaft abgeschnitten und gesagt: Wer seinem Bruder zürnt, wer ihn einen Toren schilt und ihn Rakka nennt, der soll bestraft werden; und wer eine Gabe darbringen will, soll nicht vorher zum Opfertisch hinzutreten, als bis er der Feindschaft ein Ende gemacht; wer einen Widersacher hat, soll sich den Feind zum Freunde machen, bevor er das Gerichtsgebäude betritt. Daraufhin geht er wieder zur bösen Lust über und sagt: Wer jemand unkeuschen Blickes betrachtet, soll wie ein Ehebrecher S. 336 angesehen werden; wer Ärgernis erfährt von einem unzüchtigen Weibe oder einem Manne, oder sonst von einem, der ihm nahesteht, der soll sie alle entfernen; wer durch rechtmäßige Ehe eine Frau besitzt, der soll sie nie fortschicken, um sich nach einer anderen umzusehen. Eben hierdurch hat er die Wurzeln der bösen Begierlichkeit ausgerissen. Von hier aus geht er dann gegen die Habsucht vor, indem er befiehlt, nicht zu schwören, nicht zu lügen, das eigene Kleid nicht zurückzuhalten, das man eben anhat; vielmehr dem, der es haben will, auch noch den Mantel dazuzugeben und ihm selbst mit seinem Leib zu dienen. Durch solch äußerst entschiedene Mittel ertötet er die Liebe zum Besitz.