4.
Daraus geht aber klar hervor, dass auch Joseph daher stammte. Denn ein Gesetz schrieb vor, nicht außerhalb seines Geschlechtes zu heiraten, sondern innerhalb desselben Stammes. Auch hat der Patriarch Jakob geweissagt, der Messias werde aus dem Stamme Juda's erstehen, indem er sagte: „Nicht wird das Szepter von Juda weichen, noch der Führer aus seinem Stamme, bis dass derjenige kommt, der auserwählt ist; und er wird die Sehnsucht der Völker sein“1 . Diese Prophetie beweist also wenigstens, dass Christus aus dem Stamme Juda kam; dass er auch aus dem Geschlechte Davids sei, beweist sie allerdings noch nicht. Im Stamme Juda's gab es nämlich nicht bloß das Geschlecht Davids, sondern noch viele andere, und es war ganz gut möglich, aus dem Stamme Juda's zu sein, ohne deshalb dem Geschlechte Davids anzugehören. Ja, aber damit du das nicht etwa glaubest, benimmt dir der Evangelist deinen Zweifel, indem er2 sagt, Christus stamme aus dem Hause und der Familie Davids.
Willst du aber noch andere Beweise haben, so fehlt es auch daran nicht. Denn es war nicht nur nicht erlaubt, aus einem anderen Stamme jemand zu heiraten, sondern auch nicht einmal aus einer anderen Familie, d.h. Verwandtschaft. Beziehen wir also die Worte: „aus dem Hause und der Familie Davids“ auf die Jungfrau, so ist die Frage bewiesen; beziehen wir sie auf Joseph, so kommen wir durch ihn zum gleichen Resultat. Denn wenn er aus dem Hause und aus der Familie Davids stammte, so nahm er sein Weib sicher nur daher, wo er selber herstammte.
S. 38Wie aber, fragst du, wenn er das Gesetz außer acht gelassen hätte? Eben deshalb hat der Evangelist früher bezeugt, dass Joseph ein rechtschaffener Mann war, damit du dies nicht behaupten könntest, sondern dich von seiner Tugend überzeugest und wissest, dass er niemals das Gesetz übertrat. Er, der solche Nächstenliebe besaß und so ohne Leidenschaft war, dass er trotz zwingender Verdachtsgründe gegen die Jungfrau nicht vorgehen wollte, wie hätte er aus Lust das Gesetz übertreten sollen? Er, der vollkommener war als das Gesetz3 , wie hätte er etwas gegen das Gesetz tun sollen, und zwar ohne irgendeinen zwingenden Grund? Dass also die Jungfrau aus dem Geschlechte Davids stammte, ist aus dem Gesagten klar. Weshalb hat aber der Evangelist nicht ihren Stammbaum aufgeführt, sondern den Josephs? Das bedarf einer Erklärung. Was war also der Grund? Es war nicht Sitte bei den Juden, den Stammbaum von Frauen anzugeben. Um also sowohl diesen Gebrauch zu achten, und sich nicht den Anschein zu geben, als wolle er ihn schon auf der ersten Seite verletzen, und um uns dabei doch mit der Jungfrau bekannt zu machen, deshalb übergeht er ihre Vorfahren und führt nur diejenigen Josephs an. Hätte er es bei der Jungfrau getan, so hätte er sich den Anschein gegeben, als wolle er etwas Neues einführen; hätte er4 von Joseph geschwiegen, so hätten wir nichts über die Ahnen der Jungfrau erfahren. Damit wir also wüssten, wer und woher Maria sei, und damit doch Gesetz und Brauch unangetastet blieben, zählt er die Ahnen des Bräutigams auf und zeigt, dass dieser aus dem Hause Davids stamme. Denn wenn er das bewiesen hat, ist auch das andere mitbewiesen, dass nämlich die Jungfrau aus dem gleichen Geschlechte sei, da ja dieser Gerechte, wie ich eben gesagt, es nicht über sich gebracht haben würde, ein Weib aus fremdem Stamme heimzuführen.
Man kann aber auch noch einen anderen tieferen Grund angeben, weshalb die Ahnen der Jungfrau mit Schweigen übergangen werden; doch ist es jetzt nicht S. 39die Zeit hiefür, da ich schon soviel über den Gegenstand gesagt habe. Lassen wir es also jetzt bei den bisherigen Fragen bewenden, und behalten wir indessen genau die Aufschlüsse im Gedächtnisse, die ich euch gegeben; so z.B. über die Frage, weshalb David zuerst erwähnt wurde? weshalb der Evangelist sein Buch das Buch der Abstammung genannt? weshalb er sagte „Jesus Christus“? wie die Geburt eine gewöhnliche und zugleich eine außergewöhnliche sei? wie wir bewiesen haben, dass Maria von David abstamme, weshalb die Stammtafel Josephs angeführt und die Vorfahren der Jungfrau mit Stillschweigen übergangen werden? Wenn ihr euch all das merkt, dann ist das für mich eine bedeutende Ermutigung für die Zukunft. Wenn ihr euch aber nicht darum kümmert und es eurem Gedächtnis entschwinden lasset, dann werden auch wir in Zukunft an Eifer nachlassen. Auch der Landmann bearbeitet ja ungern wieder einen Acker, in dem ihm der Same zugrunde gegangen ist. Ich bitte euch also, behaltet, was ich gesagt habe. Wenn ihr euch mit solchen Erwägungen abgebt, so wird eurer Seele eine große und heilsame Gnade zuteil. Auch Gottes Wohlgefallen können wir durch solche Betrachtungen erlangen; wenn wir unseren Mund von anmaßenden, schimpflichen und tadelnswerten Reden rein bewahren und nur an göttliche Dinge denken. Selbst den Dämonen werden wir furchtbar werden, wenn wir unsere Zunge mit solchen Worten waffnen; Gottes Gnade werden wir uns in noch reicherem Maße zuziehen und unser5 Auge wird dadurch noch mehr geschärft werden. Denn auch die Augen, den Mund, das Gehör hat Gott uns deshalb gegeben, damit ihm alle unsere Glieder dienen, damit wir reden und tun, was Gottes ist, damit wir ihm unablässig Loblieder singen, ihm Dank sagen, und durch solche Dinge unseren Geist erheben. Wie der Leib, der reine Luft einatmet, gesünder wird, so wird auch die Seele weiser, wenn sie durch solche Speise genährt wird.