6.
O dass auch wir so entzündet werden möchten, wie sein Herz von Liebe zu uns erglüht! Indes sucht dieses1 Feuer nur eine günstige Gelegenheit. Wenn du ihm nur einen kleinen Funken hinhältst, so entzündest du den ganzen Feuerbrand seiner wohltätigen Liebe. Er zürnt ja nicht, weil er beleidigt ward, sondern weil du der Beleidiger bist und dazu so unverschämt warst wie ein Betrunkener. Wenn schon wir, die wir doch schlecht sind, Schmerz empfinden, wenn unsere Kinder uns beleidigen, so empfindet um so mehr Gott, der doch gar nicht beleidigt werden kann, Unwillen über dich, den Beleidiger. Wenn dies uns schon so geht, die wir nur eine natürliche Liebe haben, dann um so mehr dem, der in übernatürlicher Weise liebt. "Denn", sagt er, "wenn auch eine Mutter ihre eigenen Kinder vergessen könnte, ich werde dich nicht vergessen"2 . Treten wir also hin zum Herrn und sagen wir ihm: "Jawohl, Herr, auch die Hündlein nähren sich von den Brosamen, die von dem Tische ihrer Herren fallen"3 . Treten wir hin zu ihm, zur Zeit oder zur Unzeit, oder besser gesagt, wir können gar nicht zur Unzeit zu ihm kommen. Unzeitig ist es nur, wenn man nicht S. d306 immer zu ihm kommt. Bei dem, der nur darnach verlangt zu geben, kommt man mit seinen Bitten immer recht. Wie das Atmen niemals unzeitgemäß ist, so auch nicht das Bitten, wohl aber dessen Unterlassung. Denn wie wir den Atem benötigen, so brauchen wir auch Gottes Hilfe; und wenn wir nur wollen, werden wir ihn uns leicht geneigt machen. Das hat auch der Prophet geoffenbart und hat gezeigt, dass der Herr stets zu Wohltaten bereit ist, mit den Worten: "Wie die Morgendämmerung, so werden wir ihn bereit finden"4 . Denn so oft wir auch zu ihm kommen, immer werden wir sehen, dass er bereit ist, unsere Bitten anzuhören. Wenn wir aber nichts von der reichfließenden Quelle seiner Heiligkeit uns aneignen, so ist dies allein unsere Schuld. Das hat der Herr auch den Juden vorgehalten mit den Worten: "Mein Erbarmen ist wie eine Wolke am frühen Morgen und wie Tau, der in der Morgendämmerung vorübergeht"5 . Der Sinn dieser Worte ist der: Ich habe meinerseits alles getan, was ich konnte, ihr aber habt durch eure große Schlechtigkeit diese unaussprechliche Großmut zuschanden gemacht, gerade so, wie die aufsteigende Sonnenhitze die Wolken und den Tau auflöst und verscheucht. Aber auch das ist ein Zeichen der göttlichen Fürsorge. Wenn Gott nämlich solche sieht, die seiner Wohltaten unwürdig sind, so hält er ein mit seinem Segen, um uns nicht sorglos zu machen. Wenn wir aber nur ein wenig uns bessern, nur so viel, dass wir unsere Sünden anerkennen, so lässt er alsbald seine Gnaden fließen, reichlicher als Quellen, und die Fülle der Wohltaten, die er über uns ausgießt, übersteigt die Fülle des Meeres. Und je mehr du erhältst, um so größer ist seine Freude, und gerade das macht ihn wieder um so geneigter, noch mehr zu geben. Er betrachtet es eben wie einen eigenen Gewinn, wenn wir gerettet werden und er den Bittenden recht reichlich geben kann. Das hat auch der hl. Paulus erklärt, da er sagte: "Er ist reich für alle und über alle, die ihn anrufen"6 . Nur dann zürnt er, wenn wir S. d307 ihn um nichts bitten; nur dann wendet er sich von uns ab, wenn wir keine Anliegen vorbringen. Darum ist er arm geworden, um uns reich zu machen7 ; darum hat er auch all seine Leiden ertragen, um uns zum Bitten zu bewegen. Verzweifeln wir also nicht! Nachdem wir so viele Anlässe und so gute Hoffnungen haben, wollen wir zu ihm kommen, und wenn wir auch jeden Tag sündigten, wollen ihn anflehen, ihm unsere Bedürfnisse mitteilen, und ihn um Verzeihung für unsere Sünden bitten. So werden wir zuletzt auch zum Sündigen immer weniger geneigt sein, werden den Teufel verjagen, die Gnade und Liebe Gottes uns erwerben, und der himmlischen Güter teilhaft werden durch die Gnade und das Erbarmen unseres Herrn Jesus Christus, der die Ehre und die Macht besitzt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!