5.
Siehst du jetzt, wie vorzüglich dieser Vergleich des Herrn ist, und ganz geeignet, auch den Mutlosesten wieder zu edlen Hoffnungen aufzurichten? Hier hat er also seine Güte mit der von Vätern verglichen; im vorausgehenden hat er seinen Beweis von den besten seiner Gaben hergeleitet, der Seele und dem Leib. Nirgends kommt er dagegen auf den höchsten Erweis seiner Liebe zu sprechen, nirgends redet er von seiner eigenen Ankunft unter den Menschen. Denn, wie sollte der, der so bereitwillig seinen Sohn zum Schlachtopfer gegeben, uns nicht alle Gnaden gewähren? Doch war dies Opfer damals noch nicht vollzogen. Der hl. Paulus hingegen führt es an mit den Worten: „Wie wird derjenige, der den eigenen Sohn nicht geschont hat, uns nicht zugleich mit ihm alle Gnaden verleihen“1 . Christus selbst hingegen entnimmt seine Vergleiche im Verkehr mit den Juden zunächst noch den menschlichen Verhältnissen. So hat er also gezeigt, dass man nicht auf das Gebet vertrauen dürfe, wenn wir nicht auch unsererseits unsere Pflicht tun, und dass selbst die Eifrigen nicht bloß auf den eigenen Eifer bauen, sondern die Hilfe von oben erflehen und doch zugleich das tun sollen, was an ihnen liegt. Auf diese beiden Dinge macht er denn auch unablässig aufmerksam. So lehrte er nach oftmaligen Ermahnungen die Jünger beten, und nachdem er sie beten gelehrt, ermahnt er sie wieder zum Handeln. Dann kommt er nochmals auf die Pflicht des unablässigen Gebetes zurück und sagt: Betet, suchet, klopfet an2 . Daraufhin ermahnt er sie wieder, auch selbst Eifer zu zeigen.
V.12: „Also“, sagt er, „alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun.“
Damit hat er, in kurzen Worten zusammengefasst, gezeigt, dass die Tugendlehre einfach, leicht und für alle verständlich ist. Auch sagt er nicht bloß: „alles, was ihr wollt“, sondern:„alles also, was ihr wollt“. Dieses „also“ fügt er nicht umsonst hinzu, sondern er wollte damit andeuten: Wenn ihr erhört werden wollt, so tut außer dem, was ich schon gesagt habe, auch dies noch. Was ist aber dies? „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun.“ Siehst du, wie der Herr auch hier wieder zeigte, dass man nicht bloß beten, sondern auch einen tadellosen Lebenswandel führen müsse? Auch sagte er nicht: was immer du willst, dass Gott dir tue, das tu auch deinem Nächsten; sonst könntest du sagen: wie ist dies aber möglich? Er ist Gott, und ich bin ein Mensch! Nein, er sagte: Was immer du willst, dass dein Mitknecht dir tue, das tue auch du deinem Nächsten. Was ist wohl leichter als dies? und was gerechter? Dann fügte der Herr außer dem verheißenen Lohn auch noch ein großes Lob hinzu: „Denn das begreift Gesetz und Propheten in sich." Daraus geht klar hervor, dass die Übung der Tugend schon in unserer Natur liegt, dass wir alle schon gleichsam von Haus aus wissen, was wir zu tun haben, und dass wir uns niemals mit Unwissenheit entschuldigen können.
V.13: „Tretet ein durch die enge Pforte; denn weit ist das Tor und breit der Weg, der zum Verderben führt, und viele sind's, die durch dieses eintreten.
V.14: Und eng ist das Tor und rauh der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden.“
Im Folgenden sagt dann Christus noch: „Mein Joch ist süß und meine Bürde ist leicht“3 . Auch in den unmittelbar vorausgehenden Worten hat er denselben Gedanken angedeutet. Wie kommt es also, dass er hier sagt, das Tor sei eng und der Weg rauh? Indes, wenn du genau zusiehst, so zeigt er auch hier, dass derselbe S. d322 gar leicht sei, bequem und angenehm. Wie kann aber der enge und rauhe Weg leicht sein, fragst du? Eben weil es ein Weg ist und ein Durchgangstor; wie es sich denn auch auf der anderen Seite nur um einen Weg handelt und um ein Tor, wenn sie auch weit sind und breit. Von all dem hat aber nichts dauernden Bestand, alles geht vorbei, die Leiden so gut wie die Freuden des Lebens. Aber nicht bloß aus diesem Grunde ist das Tugendleben leicht, es wird auch noch mehr erleichtert durch den Zweck und das Ziel, worauf es hingeordnet ist. Denn nicht allein, dass die Mühen und Beschwerden vorübergehen, sondern auch, dass sie zu einem guten Ende führen4 , ist wohl geeignet die Kämpfenden zu trösten. Also sowohl die Vergänglichkeit der Leiden, wie auch die ewige Dauer des Lohnes, sowie der Umstand, dass die Leiden vorausgehen und der Lohn nachfolgt, kann einen ungemein großen Trost im Leiden gewähren. Deshalb sagt auch der hl. Paulus, die Trübsal sei leicht, nicht weil die Sache an sich leicht wäre, sondern weil die5 Streiter die Trübsal freiwillig auf sich nehmen und ihre Hoffnung auf den Himmel setzen. „Denn“, sagt Paulus, „eine leichte Trübsal bewirkt ewig dauernde, schwerwiegende Verherrlichung, wenn wir nämlich nicht auf das Irdische, Sichtbare blicken, sondern auf das Himmlische, Unsichtbare“6 . Wenn die Wogen und Meere den Seeleuten, Tod und Wunden den Soldaten, Winter und Frost dem Landmann, heftige Stöße den Faustkämpfern ganz leicht und erträglich vorkommen, weil sie auf einen Lohn hoffen, der doch vergänglich ist und verschwindet, so wird um so mehr da niemand der gegenwärtigen Leiden achten, wo der Himmel als Preis gesetzt ist, mit der unaussprechlichen Seligkeit und dem unvergänglichen Siegeskranz.