1.
V.1: "Und Jesus stieg in das Schifflein, fuhr über das Meer und begab sich in seine eigene Stadt.
V.2: Und siehe, sie brachten einen Gelähmten zu ihn, der auf einer Bahre lag. Und als Christus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Vertraue, mein Sohn, deine Sünden seien dir nachgelassen".
"Seine eigene Stadt" nennt hier der Evangelist: Kapharnaum. Jesu Geburtsstadt war nämlich Bethlehem; die Stadt, in der er aufwuchs, war Nazareth; diejenige, in der er sich meistens aufzuhalten pflegte, war Kapharnaum. Dieser Gelähmte ist aber ein anderer als der, von dem Johannes erzählt1 . Jener lag ja bei dem Teiche, der unsrige dagegen in Kapharnaum. Der eine war schon achtunddreißig Jahre krank; von diesem ist nichts dergleichen erwähnt. Der eine war allein und ohne Hilfe; dieser hatte Leute, die für ihn sorgten und die ihn2 trugen. Zu diesem sagte der Herr: "Mein Sohn, deine Sünden seien dir nachgelassen"; zu jenem: "Willst du gesund werden?" Den einen hat er am Sabbat geheilt; diesen an einem anderen Tag; sonst hätten ihm die Juden vielleicht auch das noch vorgeworfen. In der Tat haben sie aber in diesem Falle geschwiegen; bei dem anderen dagegen verfolgten sie den Herrn mit Klagen. Das habe ich nicht ohne Grund gesagt, sondern in der Absicht, dass niemand glaube, es liege hier ein Widerspruch vor, indem er von der S. d411 Voraussetzung ausgeht, es handle sich um einen und denselben Gelähmten. Du aber beachte die Demut und die Milde des Herrn. Schon früher hatte er die Menge des Volkes entlassen; und als ihn die Bewohner von Gadara fortwiesen, widerstand er nicht, sondern ging fort, wenn auch nicht weit. Dann stieg er ins Schifflein, um ans andere Ufer zu kommen, obwohl er auch zu Fuß hätte3 gehen können. Er wollte eben nicht immer Wunder wirken, um den Plan seiner Vorsehung nicht zu stören.
Matthäus also sagt, man habe den Kranken zu Christus getragen; die anderen dagegen schreiben, die Leute hätten sogar das Dach durchbrochen und ihn so herausgelassen. Dann stellten sie den Kranken vor ihn und sagten nichts, sondern überließen alles ihm4 . Im Anfange ging nämlich der Herr selbst umher, da er5 noch keinen so großen Glauben erwartete, dass sie6 zu ihm gekommen wären. Hier dagegen mussten sie nicht bloß zu ihm kommen, sondern auch ihren Glauben zeigen. "Denn", heißt es, "da Christus ihren Glauben sah", das heißt den Glauben derjenigen, die den Kranken vom Dach herunterließen. Er verlangt eben den Glauben nicht immer bloß von den Kranken, so z.B., wenn diese ohne Verstand sind, oder wegen einer sonstigen Krankheit die Besinnung verloren haben. Indes bewies hier auch der Kranke seinen Glauben. Denn wenn er nicht geglaubt hätte, würde er nicht geduldet haben, dass man ihn vom Dache herunterlasse. Weil also der Kranke solchen Glauben zeigte, so zeigte auch Christus seine Macht und löste ihn aus eigener Machtfülle von seinen Sünden. So zeigte er in allweg, dass er die gleiche Ehre genießt, wie der Vater. Beachte aber wohl: oben hat er seine Macht gezeigt durch die Art, wie er lehrte, denn "er lehrte sie wie einer, der Macht hat"7 ; dann bei dem Aussätzigen durch die Worte: "Ich will, sei rein"8 ; bei dem Hauptmanne, S. d412 der da sagte: "Sprich nur ein Wort, und mein Knecht wird gesund", denn da zollte ihm der Herr Anerkennung und lobte ihn über alle; auf dem Meere zeigte er seine Macht, indem er es mit einem einzigen Worte zur Ruhe brachte; bei den Dämonen, da sie ihn als Richter bekannten und der Herr sie mit seinem Machtwort ausgetrieben hat. Auch hier zwingt er wiederum seine Feinde, in anderer, noch viel stärkerer Weise seine Ebenbürtigkeit mit dem Vater anzuerkennen, denn er lässt dies sogar durch ihren eigenen Mund verkünden. Er selbst zeigte, wie wenig es ihm um Menschenehre zu tun sei. Da nämlich eine so große Menge von Zuschauern um ihn herumstand, dass es nicht möglich war, zu ihm durchzudringen, so ließen sie den Gelähmten von oben herab. Demnach heilte er nicht gleich beim ersten Anblick den Leib des Kranken, sondern wartete, bis die anderen ihn baten, und heilte dann zuerst das Unsichtbare, die Seele, durch die Vergebung der Sünde. Das hat dem Kranken die Rettung verschafft und ihm selber großen Ruhm. Die Umstehenden waren nämlich von bösem Willen beseelt und wollten bei der Sache genau zusehen; dadurch trugen sie aber, ohne es zu wollen, nur dazu bei, das Geschehnis um so mehr bekannt und berühmt zu machen. Da eben der Herr sehr klug war, benützte er ihre Eifersucht, um das Wunder desto mehr hervortreten zu lassen. Sie fingen also an, unruhig zu werden und sagten:
V.3: "Der lästert Gott; wer kann Sünden vergeben, außer Gott allein?"
Sehen wir, was der Herr ihnen antwortet. Hat er ihnen vielleicht ihre Meinung ausgeredet? Wenn sie nicht recht war, so musste er sagen: Warum hegt ihr falsche Ansichten von mir? Ich bin weit entfernt, solche Macht zu besitzen! In der Tat sagte er aber nichts dergleichen. Gerade das Gegenteil hat er bestätigt und bekräftigt, erstens durch seine eigene Aussage, zweitens durch das Wunder, das er wirkte. Da es bei den Zuhörern vermutlich Anstoß erregt hätte, dass jemand in einer Sache für sich selbst Zeugnis ablege, so ließ der Herr seine Macht und Würde von anderen bezeugen. Bewunderungswert daran ist, dass er dies nicht nur durch S. d413 seine Freunde, sondern auch durch seine Feinde tat. Darin bekundet sich eben die Fülle seiner Weisheit. Durch seine Freunde tat er es, als er sagte:"Ich will, sei rein!"9 .Ebenso da er sprach: "Nicht einmal in Israel habe ich solchen Glauben gefunden!10 . Durch seine Feinde tat er dasselbe hier. Sie hatten gesagt, niemand könne Sünden nachlassen außer Gott allein. Da fuhr der Herr weiter: "Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn die Macht hat, auch Sünden nachzulassen11 : Steh auf, nimm dein Bett und geh in dein Haus!" So machte er es aber nicht bloß in diesem Falle, sondern auch ein andermal, da die Juden wider ihn sprachen und sagten: "Nicht ob eines guten Werkes wollen wir Dich steinigen, sondern ob Deiner Gotteslästerung und weil Du Dich selbst zu Gott machst, obwohl Du ein bloßer Mensch bist."12 . Selbst da hat er dieser Meinung nicht widersprochen, sondern hat sie im Gegenteil wiederum bestätigt und gesagt: "Wenn ich die Werke meines Vaters nicht tue, dann braucht ihr mir nicht zu glauben; wenn ich sie aber tue und ihr mir nicht glauben wollt, so glaubt wenigstens meinen Werken"13 .