3.
S. d416 Christus richtete also den Gichtbrüchigen auf und schickte ihn nach Hause. Auch damit bewies er wieder, dass er nicht aus Stolz gehandelt und dass der Vorgang nicht bloßer Schein war. Diejenigen, die Zeugen der Krankheit gewesen, die macht er so auch zu Zeugen der Heilung. Ich hätte gewünscht, so will er gleichsam sagen, durch deine Krankheit auch diejenigen zu heilen, die anscheinend gesund, an der Seele dagegen krank sind; da sie aber nicht wollen, so gehe nach Hause und nütze wenigstens denen, die dort sind. Siehst du, wie er sich dadurch kundgibt als den Schöpfer der Seele und der Leiber? Beide heilt er von ihrer Lähmung und gibt so das Unsichtbare durch das Sichtbare zu erkennen. Trotzdem kriechen sie aber noch immer am Boden. Denn
V.8: „Als die Menge dieses sah, wunderte sie sich und lobte Gott, der solche Macht den Menschen gegeben hat.“
Das Fleisch hinderte sie eben1 . Der Herr aber tadelte sie nicht, sondern fuhr fort, durch seine Werke sie aufzurütteln und ihren Sinn nach oben zu richten. Es war ja schon nichts Geringes, dass sie glaubten, er sei größer als alle anderen Menschen und er komme von Gott. Denn wenn diese Überzeugung sich bei ihnen festsetzte, so konnten sie wohl zu der Erkenntnis fortschreiten, dass er auch der Sohn Gottes ist. Aber sie hielten eben das erste nicht unerschütterlich fest; deshalb konnten sie nicht weiter voran kommen. So sagten sie nachher wieder: „Dieser Mensch ist nicht von Gott“2 , und: „Wie sollte dieser Mensch von Gott sein?“ Solche Redensarten führten sie immer im Munde und benutzten sie als Deckmantel für ihre eigenen Leidenschaften. Das gleiche tun auch jetzt noch viele. Sie geben sich den Anschein, die Ehre Gottes zu wahren und gehorchen dabei nur ihren eigenen Leidenschaften, denen sie jedoch allen entsagen sollten. Gott, der Herr des S. d417 Alls, könnte ja sonst seinen Blitzstrahl schleudern wider die, die ihn also lästern. Statt dessen lässt er die Sonne aufgehen und sendet Regen und gibt uns reichlich alles andere, dessen wir bedürfen. Das müssen auch wir nachahmen, müssen bitten, ermahnen, mit Sanftmut zurechtweisen, nicht im Zorn und in wilder Leidenschaft. Die Lästerungen bringen ja Gott keinen Schaden; seinetwegen brauchst du dich nicht aufzuregen; der Lästerer verwundet nur sich selbst. Deshalb seufze und weine! Der Tränen wert ist solche Leidenschaft. Auch gibt es für den Verwundeten keine bessere Arznei als Sanftmut. Die Sanftmut ist mächtiger als alle Gewalt. Sieh nur, wie der gelästerte Gott mit uns redet im Alten, wie im Neuen Bunde? Dort sagte er: „Mein Volk, was habe ich dir getan?“3 , hier aber: „Saulus, Saulus, was verfolgst du mich?“4 . Auch Paulus weist uns an, unsere Gegner mit Sanftmut zu belehren5 . Und als die Jünger zu Christus kamen und ihn baten, er möge Feuer vom Himmel fallen lassen, da verwies er es ihnen mit Strenge und sagte: „Ihr wißt nicht, wessen Geistes ihr seid“6 . Auch hier rief der Herr nicht aus: O ihr Elenden, ihr Gaukler und neiderfüllten Feinde des Menschenheiles! Nein, er sagt: „Was denkt ihr Böses in eurem Herzen?“7 .
Man muss also doch die Krankheiten mit Sanftmut zu heilen versuchen. Denn wer sich nur aus Menschenfurcht gebessert hat, wird sich gar schnell wieder dem Bösen zuwenden. Deshalb befahl der Herr, das Unkraut stehen zu lassen, um den Sündern Zeit zur Bekehrung zu geben. So haben sich viele bekehrt und sind eifrig im Guten geworden, während sie früher böse waren, wie z.B.: Paulus, der Zöllner und der Räuber. Diese alle waren vorher Unkraut und wurden dann reifer Weizen. Beim natürlichen Samen ist so etwas allerdings unmöglich; beim freien Willen aber ganz leicht; er ist eben nicht durch S. d418 die Gesetze der Natur gebunden, sondern ist durch die Freiheit der Selbstbestimmung ausgezeichnet. Wenn du also irgendwo einen Feind der Wahrheit siehst, so heile ihn, pflege ihn, leite ihn an zur Tugend, gib ihm das Beispiel tadelloser Lebensführung, sei unanfechtbar in der Rede, erweise ihm Hilfe und Fürsorge, lass nichts unversucht, ihn auf den rechten Weg zu bringen. Mache es ganz so, wie es die besten unter den Ärzten zu tun pflegen: Die haben ja auch nicht bloß ein einziges Heilverfahren, sondern wenn sie sehen, dass eine Wunde beim ersten Heilmittel nicht heilt, so nehmen sie ein zweites, und nachher ein drittes. Das eine Mal schneiden sie auseinander, ein anderes Mal binden sie zusammen. So sei auch du ein Arzt für die Seelen! Lass kein Heilmittel unversucht, entsprechend den Weisungen Christi, damit du nicht bloß den Lohn für deine eigene Rettung verlangst, sondern auch für das, was du anderen Gutes getan hast; und alles tue zur Ehre Gottes, die dann auch auf dich zurückfällt. Denn, sagt der Herr: „Diejenigen, die mich ehren, die werde auch ich ehren; und wer mich verachtet, den werde auch ich verachten!“8 . Tun wir also alles zu seiner Ehre, damit dieser beseligende Ausspruch einst an uns sich bewähre; das möge uns allen zuteil werden, durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Macht gebührt in alle Ewigkeit. Amen!