1.
V.18: „Während der Herr solches zu ihnen sprach, siehe, da kam ein Obervorsteher herein, warf sich vor ihm nieder und sprach: Meine Tochter ist soeben gestorben; aber komm, lege ihr deine Hände auf und sie wird wieder leben.“
Auf die Reden folgt wieder eine Tat, damit die Pharisäer noch mehr in die Enge getrieben würden. Derjenige, der da kam, war ja der Obervorsteher der Synagoge, und sein Schmerz war groß. Sein einziges Kind war gestorben im Alter von zwölf Jahren, in vollster Jugendblüte! Das erweckte denn der Herr alsbald wieder zum Leben. Wenn aber Lukas berichtet, es seien einige Leute gekommen und hätten gesagt: „Störe den Meister nicht, es ist schon gestorben“1 , so antworten wir: das „soeben ist sie gestorben“ war eben gerechnet von dem Augenblick an, da er fortgegangen; oder aber, er wollte damit seinen Schmerz recht groß erscheinen lassen. Wer um etwas bittet, pflegt ja meistens seine Leiden recht beredt zu schildern und sie etwas größer zu machen, als sie in Wirklichkeit sind, um das Mitleid derer, die sie anflehen, um so eher zu erregen. Beachte auch wie unverfroren er ist. Er will gleich zwei Dinge von Christus haben: erstens, dass er komme; zweitens, dass er seiner Tochter die Hand auflege. Das deutet darauf hin, dass sie bei seinem Weggange noch am Leben war. Das gleiche verlangte ja auch jener Syrier Naaman vom Propheten: „Man sagte mir“, sprach er, „er wird herauskommen und mir seine Hände auflegen“2 . Die noch mehr irdisch Gesinnten haben eben S. d437 stets das Bedürfnis nach etwas Sichtbarem und Greifbarem. Markus sagt hier, der Herr habe die drei Jünger genommen. Ebenso schreibt Lukas. Matthäus redet einfach von Jüngern. Weshalb hat er also den Matthäus nicht mitgenommen, der doch eben erst sich ihm angeschlossen hatte? Damit sein Verlangen noch größer würde und weil er noch zu wenig gefestigt war. Deshalb ehrt er diese drei, damit auch die anderen würden, wie sie. Für Matthäus genügt zunächst das Wunder, das er an der blutflüssigen Frau sehen konnte, sowie, dass er mit dem Herrn an einem Tische sitzen und seine Gesellschaft hatte genießen dürfen. Als sich aber der Herr erhob, da folgten ihm viele, weil es ja galt, ein großes Wunder zu schauen, und auch wegen der Persönlichkeit dessen, der gekommen war, endlich, weil die meisten noch so unvollkommen waren, dass sie weniger das Wohl der Seele, als die Gesundheit des Leibes suchten. Und sie strömten zusammen, die einen ob ihrer eigenen Leiden, die anderen, weil sie gerne zuschauen wollten, wie jene geheilt würden. Dagegen waren es vorläufig noch wenige, die hauptsächlich seiner Reden und seiner Lehre wegen zu ihm kamen. Indes ließ Christus sie nicht in das Haus hinein, sondern nur die Jünger und auch sie nicht alle. Damit zeigte er uns, wie man auf jede Weise die Ehre der Menschen fliehen soll.
V.20: „Und siehe“, heißt es weiter, „eine Frau, die seit zwölf Jahren blutflüssig war, näherte sich ihm und berührte den Saum seines Kleides.
V.21: Denn, dachte sie bei sich selbst: Wenn ich nur wenigstens sein Kleid berühre, so werde ich gesund werden.“
Weshalb ging sie denn aber nicht offen und frei zu ihm hin? Sie schämte sich ob ihres Leidens, da sie sich dessentwegen für unrein hielt. Denn wenn schon eine, die in der Monatsreinigung war, für unrein galt, dann kommt sie, die an einer solchen Krankheit litt, dies noch viel eher glauben. Denn vor dem Gesetz galt dieses Leiden als große Unreinheit. Deshalb hält sie sich zurück und verbirgt sich. Denn auch sie hatte noch nicht S. d438 den rechten und vollkommenen Glauben an ihn; sonst hätte sie nicht gedacht, sie könnte ihm verborgen bleiben. Das ist auch die erste Frau, die sich in der Öffentlichkeit dem Herrn nahte. Sie hörte eben, dass er auch Frauen heile, und dass er eben jetzt zu dem verstorbenen Mädchen sich begebe. Ihn in ihr Haus zu bitten, wagte sie nicht, obgleich sie wohlhabend war. Aber auch offen nahte sie sich ihm nicht; nur heimlich, aber voll Glauben berührte sie sein Gewand. Sie zweifelte nicht und sagte nicht bei sich selbst: Werde ich auch wohl von meiner Krankheit befreit werden, oder werde ich nicht geheilt werden? Sie vertraute vielmehr fest auf die Heilung und kam so zu ihm hin. „Denn“, sagte sie bei sich selbst, „wenn ich auch nur den Saum seines Kleides berühre, so werde ich gesund werden.“ Sie sah eben, aus was für einem Hause Christus herauskam: aus dem der Zöllner; und was für Leute sein Gefolge bildeten: Sünder und Zöllner. Das alles flößte ihr Mut ein und Hoffnung. Was tat nun Christus? Er lässt sie nicht im Verborgenen bleiben, sondern zieht sie mitten in die Öffentlichkeit, der Leute wegen.
Da sagen freilich einige unverständige Menschen, er habe das getan, um nachher geehrt zu werden. Denn aus welch anderem Grunde, sagen sie, ließ er sie nicht im Verborgenen? Was sagst du da, du Gottlosester aller Gottlosen? Er, der andere schweigen hieß, der ungezählte Wunder tat, der sollte nach Ruhm verlangen? Aber warum hat er dann die Frau an die Öffentlichkeit gezogen? Erstens, um der Frau ihre Furcht zu benehmen, damit sie nachher nicht von Gewissensbissen gequält würde, als hätte sie die Gnade der Heilung gleichsam gestohlen und so voll Angst dastünde. Zweitens wollte er sie eines Besseren belehren, da sie glaubte, sie könne vor ihm verborgen bleiben. Drittens wollte er, dass alle ihren Glauben sähen und sie so für andere zum Beispiel würde. Auch gibt er ihnen durch den Beweis seiner Allwissenheit kein geringes Wunder zu schauen, als durch die Heilung des Blutflusses. Ferner ermutigt er durch die Heilung der Frau auch den Synagogenvorsteher, der schon die Hoffnung aufgeben wollte, wodurch er alles verdorben hätte. Es kamen nämlich S. d439 einige, die da sagten: „Belästige den Meister nicht weiter; das Mädchen ist schon gestorben“3 . Ja, die Leute im Hause lachten, weil Jesus sagte: „Es schläft.“ Und wahrscheinlich war es auch dem Vater ähnlich gegangen.