4.
Das alles sage ich, nicht als ob ich jemanden zur Trägheit ermuntern wollte. Gott bewahre! Vielmehr ist mein innigster Wunsch, es möchten alle recht tüchtig arbeiten; denn der Müßiggang hat alles Böse verschuldet. Ich will euch nur ermahnen, nicht geizig und hartherzig zu sein. Hat sich ja doch der hl. Paulus unzählige Mahle beklagt und gesagt: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“1 . Und dabei ließ er es noch nicht bewenden, sondern fügte hinzu: „Ihr aber sollt nicht müde werden, Gutes zu tun“2 . Darin liegt aber doch ein Widerspruch. Denn wenn du befiehlst, sie dürften nicht essen, warum ermahnst du uns, ihnen zu geben? Jawohl, antwortet Paulus, ich habe ja befohlen, man solle sich von ihnen abwenden und nichts mit ihnen zu tun haben, und ebenso habe ich gesagt: „Behandelt sie nicht als Feinde, sondern weiset sie zurecht“3 . Dieser Befehl steht nicht im Widerspruch mit dem früheren, sondern stimmt sehr gut mit ihm überein. Denn wenn du bereit bist zum Almosengeben, dann wird der Arme alsbald von seiner Trägheit geheilt und du von deiner Hartherzigkeit. Aber, wendest du ein, er lügt und schwindelt einem eine Menge Dinge vor. Aber auch aus diesem Grunde verdient er ein Almosen, weil er eben in so große Not S. d517 geraten ist, dass er sogar zu solchen Lügen seine Zuflucht nehmen muss. Statt dessen habe wir nicht nur kein Mitleid mit ihm, sondern geben ihm auch noch harte Worte und sagen; Hast du nicht schon ein und ein zweites Mal etwas erhalten? Ja, und dann? Braucht er deshalb kein zweites Mal zu essen, weil er schon einmal gegessen? Warum schreibst du denn deinem eigenen Magen nicht dasselbe Gesetz vor und sagst zu ihm: Du bist gestern und vorgestern gesättigt worden, sei jetzt zufrieden? Im Gegenteil, deinen Magen bringst du durch übermäßige Ernährung fast zum Bersten, den Armen dagegen weisest du ab, der nur das nötige Maß verlangt. Und doch solltest du gerade wenigstens deshalb Mitleid mit ihm haben, weil er gezwungen ist, dich Tag für Tag anzubetteln. Wenn schon kein anderer Grund dich zu rühren vermag, so solltest du wenigstens deshalb Mitleid mit ihm haben; denn nur durch seine Armut und Notlage ist er gezwungen, dies zu tun. Und hast du nicht auch deshalb Mitleid mit ihm, weil er sich nicht schämt, obgleich er derlei Dinge zu hören bekommt?
Seine Not ist eben stärker. Du aber zeigst nicht nur kein Mitleid mit ihm, sondern beschämst ihn auch noch. Und während Gott befohlen hat, heimlich Almosen zu geben, stehst du da und wirfst dem, der sich an dich wendet, vor aller Öffentlichkeit Dinge vor, die ihm eigentlich dein Mitleid hätten sichern sollen. Wenn du doch schon nichts geben willst, wozu schmähst du ihn dann noch; wozu betrübst du noch eine unglückliche, elende Seele? Er glaubte in einen ruhigen Hafen zu kommen, da er deine Hand aufsuchte. Warum peitschest du da noch die Wogen auf und machst den Sturm noch ärger? Warum verachtest du seine Zwangslage? Würde er wohl zu dir gekommen sein, wenn er voraus gesehen hätte, dass er dergleichen zu hören bekomme? Und wenn er es zum voraus wusste und dennoch kam, so ist gerade dies ein Grund, mit ihm Mitleid zu haben, und ob deiner eigenen Hartherzigkeit zu erschaudern. Denn du wirst nicht einmal da zum Mitleid gestimmt, wo du jemand in einer unerbittlichen Notlage siehst; du willst nicht einmal in seiner Angst vor dem Hunger eine genügende Entschuldigung für seine Zudringlichkeit S. d518 sehen, sondern machst ihm aus dieser noch einen Vorwurf! Und doch bist du oft noch unverschämter gewesen, selbst wo es sich um bedeutendere Dinge handelte. In diesem Falle ist die Zudringlichkeit zu entschuldigen, zumal da wir uns oft nicht einmal dann schämen, wenn wir strafbare Handlungen begangen haben. Und während wir bei dem Gedanken hieran demütig werden sollten, erheben wir uns gegen diese Unglücklichen und schlagen denen Wunden, die uns um Heilmittel bitten. Wenn du ohnehin nichts geben willst, warum schlägst du ihn noch? Wenn du ihm kein Almosen verabreichen willst, warum beschimpfst du ihn noch?
Aber, sagst du, sonst bringe ich ihn überhaupt nicht mehr fort. Nun, dann mache es, wie jener Weise zu tun befahl: „Antworte ihm in Frieden und in Sanftmut“4 . Der andere ist ja auch nicht gern so zudringlich. Es gibt doch ganz gewiss keinen einzigen Menschen, der ohne allen Grund beschimpft werden möchte; und wenn manche auch tausendmal darauf bestehen, ich werde mich niemals davon überzeugen können, dass ein Mensch, der genug zum Leben hat, es vorziehen sollte, betteln zu gehen. Es soll mir also niemand mit eitlen Ausflüchten daher kommen. Denn wenn auch Paulus sagt: „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“5 , so sagt er das zu den anderen6 , nicht aber zu uns. Uns sagt er das Gegenteil, nämlich: „Werde nicht müde, Gutes zu tun“7 . So machen es ja auch wir zu Hause; wenn zwei miteinander streiten, so nehmen wir beide zur Seite und ermahnen den einen zu dem, den anderen zum Gegenteil. So machte es auch Gott und eben so Moses. Dieser sagte zu Gott: „Wenn Du ihnen die Sünde nachlässt, so lasse sie nach; wenn nicht, so nimm auch mich hinweg“8 . Den Juden selbst dagegen befahl er, sich gegenseitig und alle ihre Verwandten niederzumetzeln. Auch hierin liegt ein Widerspruch, und doch zielte beides auf einen und denselben S. d519 Endzweck ab. Ebenso sagte Gott zu Moses, so dass auch die Juden es erfahren konnten: „Lass mich und ich will dieses Volk vertilgen“9 10 . Dagegen sagte er nachher ihm allein das Gegenteil davon. Auch das hat Moses später notgedrungen ausgesagt mit den Worten: „Habe ich sie vielleicht in meinem Schoße empfangen, dass du zu mir sagst: Trage sie, wie etwa eine Amme den Säugling an ihrer Brust trägt?“11
Ebenso machen wir es ja auch zu Hause; auch da tadelt oft der Vater den Erzieher, der gegen seinen Sohn aufbraust, und sagt zu ihm unter vier Augen: Sei nicht rauh und hart; zum Sohn dagegen sagt er das Gegenteil: Wenn er dich auch zu Unrecht tadelt, trage es; und doch erstrebt er mit den beiden entgegengesetzten Ermahnungen einen und denselben guten Zweck. So sagt auch Paulus zu denen, die trotz ihrer Gesundheit betteln gehen: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“, in der Absicht, sie dadurch zur Arbeit anzuhalten; denen aber, die imstande sind, Almosen zu geben, sagt er: „Ihr aber sollt nicht müde werden, Gutes zu tun“, um sie damit zum Almosengeben anzueifern. Ebenso brachte Paulus in seinem Brief an die Römer, wo er die Heidenchristen ermahnt, die Judenchristen nicht zu verachten, den Ölzweig des Friedens zum, Vorschein, und hat anscheinend den einen dies, den anderen das Gegenteil gesagt. Geben wir uns also nicht der Hartherzigkeit hin, sondern hören wir auf die Worte des hl. Paulus, der da sagt: „Werdet nicht müde, Gutes zu tun.“ Hören wir auf den Herrn, der uns ermahnt: „Gib jedem, der dich um etwas bittet“12 , und: „Seid barmherzig wie euer Vater“13 . Der Herr hat doch vieles gesagt, aber nirgends hat er einen solchen Ausspruch getan wie hier betreffs der Barmherzigkeit. Nichts macht uns eben so sehr Gott ähnlich, als anderen Gutes tun.