2.
S. d539 Der Herr kennzeichnet also des Johannes Lebensweise durch den Hinweis auf die Wüste, auf seine Gewandung und auf das Zusammenströmen der Leute. Zuletzt bezeichnet er ihn auch noch als Prophet. Er sagt: "Wozu seid ihr herausgekommen? Um einen Propheten zu sehen? Ja, ich sage euch, ihr seht einen, der noch mehr ist als ein Prophet."
V.10: "Denn", fährt er fort, "der ist es, von dem geschrieben steht: Siehe, ich sende meinen Engel vor deinem Angesicht, der Deinen Weg vor Dir bereiten wird"1 .
Zuerst brachte er das Zeugnis der Juden; jetzt erwähnt er das der Propheten. Oder besser gesagt, zuerst hat er die Sache durch die Juden entschieden; denn darin liegt ja die größte Beweiskraft, wenn ein Zeugnis von den Feinden stammt; in zweiter Linie weist er auf das Leben des Mannes hin; an dritter Stelle bringt er sein eigenes Urteil; an vierter endlich das der Propheten. Damit bringt er die Juden auf der ganzen Linie zum Schweigen. Damit sie aber dann nicht sagten: Wie, wenn er damals zwar so gewesen wäre, jetzt sich aber geändert hätte? So fügte er auch das hinzu, was sich auf die spätere Zeit bezog, seine Kleidung, das Gefängnis und außerdem noch die Eigenschaft als Prophet. Weil er aber gesagt hatte, Johannes sei größer als ein Prophet, so zeigt er auch, worin er größer ist. Worin ist er also größer? Darin, dass er demjenigen so nahe stand, der da kommen sollte. "Denn", heißt es, "ich werde meinen Engel vor Deinem Angesichte hersenden", das heißt: nahe bei Dir. Denn wie bei den Königen diejenigen höher stehen als die anderen, die in der Nähe des königlichen Wagens gehen, so sehen wir auch Johannes nahe bei der Ankunft des Herrn auftreten. Beachte, wie er auch daraus einen Vorzug für ihn ableitet; und nicht genug damit, er drückt auch sein eigenes Urteil aus mit den Worten:
V.11: "Wahrlich, ich sage euch, unter den von den Weibern Geborenen ist keiner erstanden, der größer wäre als Johannes der Täufer."
S. d540 Mit diesen Worten will er sagen; nie hat ein Weib einen Größeren geboren als ihn. Dieser Ausspruch ist zwar allein schon genügend; willst du dich aber auch durch die Tatsachen überzeugen, so sieh nur, wovon Johannes sich nährte, wie er lebte und welch hohe Gesinnung er besaß. Er lebte so, als wäre er schon im Himmel, erhaben über die Bedürfnisse der Natur. Einen neuen Weg wandelte er, verbrachte die ganze Zeit mit Lobgesängen und Gebeten und verkehrte nie mit einem Menschen, sondern immer nur mit Gott allein. Er sah nie einen seiner Mitmenschen, noch wurde er von einem aus ihnen gesehen; er wurde nicht mit Milch ernährt, er hatte kein Bett, kein Haus und keinen Verkehr; er besaß nichts von all dem, was den Menschen angenehm ist. Dennoch war er zugleich sanftmütig und starkmütig. Höre nur, wie sanftmütig er mit seinen eigenen Jüngern redete, wie männlich mit dem Judenvolke, wie freimütig mit dem König! Darum sagte auch der Herr: "Unter den vom Weibe Geborenen ist kein Größerer erstanden als Johannes der Täufer."
Damit aber nicht das Übermaß des Lobes irgendwelche unerwünschten Folgen habe, wenn etwa die Juden den Johannes Christo vorzögen, so beachte, wie der Herr auch hier den rechten Weg einschlägt. Denn wie das, was die Johannesjünger aufrichtete, der Menge zum Schaden gereichte, indem sie den Täufer für leichtbeweglich hielten, so konnte auch das, was der Menge zum Vorteil dienen sollte, viel größeren Schaden anrichten, wenn sie infolge seiner Rede von Johannes eine höhere Meinung bekamen als von Christus. Deshalb kommt er auch dem in unauffälliger Weise zuvor mit den Worten: "Jedoch ist der Geringste im Himmelreiche immer noch größer als er." "Der Geringste", nämlich dem Alter nach, und nach der Meinung der großen Menge. Sie nannten ja den Herrn einen Fresser und Weintrinker2 und sagten: "Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns?"3 , und überall zeigten sie ihm ihre Geringschätzung. Nun denn, fragst du, ist er der größere S. d541 im Vergleich zu Johannes? Durchaus nicht. Auch Johannes will ja mit den Worten: "Er ist stärker als ich keinen Vergleich anstellen; ebensowenig Paulus, wenn er Moses erwähnt und sagt: "Dieser wurde größerer Herrlichkeit gewürdigt als Moses"4 . Und der Herr selbst spricht die Worte: "Siehe, dieser ist mehr als Salomon" auch nicht vergleichsweise. Wenn wir aber auch zugeben, es sei dies vergleichsweise vom Herrn gesagt worden, so hätte er es eben in der Absicht getan, um der Schwachheit seiner Zuhörer entgegenzukommen. Die Leute waren eben Johannes dem Täufer ungemein ergeben, und gerade damals ließen ihn seine Fesseln in noch glänzenderem Licht erstrahlen, ebenso wie sein Freimut gegenüber dem Könige, und es war ganz gut, wenn dies von den meisten in diesem Sinne aufgefasst wurde.
Auch das Alte Testament verstand es ja, die Seelen der Verirrten wieder auf diese Weise auf den rechten Weg zu führen, indem es Dinge vergleichsweise nebeneinander stellt, die sich eigentlich nicht miteinander vergleichen lassen; so zum Beispiel, wenn es heißt: "Keiner ist dir gleich unter den Göttern, o Herr"5 .Und an einer anderen Stelle: "Es ist kein Gott wie unser Gott"6 . Einige behaupten da, Christus habe dies von den Aposteln gesagt. Andere glauben, es sei von den Engeln gemeint. Es gibt eben Leute, die in alle möglichen Irrtümer zu fallen pflegen, wenn sie einmal von der Wahrheit abgewichen sind. Oder welchen Sinn hätte es denn, so etwas von Engeln oder von den Aposteln zu sagen? Im anderen Falle, wenn die Apostel gemeint gewesen wären, was hätte ihn gehindert, sie mit Namen zu nennen? Wo er von sich selbst redete, war es ganz am Platze, dass er wegen des Argwohnes, der noch herrschte, seine Person verbarg, um nicht den Anschein zu erwecken, als wolle er sich selbst rühmen. So machte er es auch in der Tat bei vielen Gelegenheiten. Was bedeuten aber die Worte: "Im Himmelreich"? S. d542 Die bedeuten: In den geistigen Dingen und in allem, was den Himmel betrifft. Endlich wollte er mit dem Satze: "Es ist keiner erstanden unter den vom Weibe Geborenen, der größer wäre als Johannes" sich selbst in Gegensatz zu Johannes bringen und so sich selbst als die Ausnahme hinstellen.