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„Da also Joseph gerecht war“, das heißt: recht und tugendhaft,„wollte er sie heimlich entlassen“.
S. 65Deshalb erzählt der Evangelist, was geschehen sei, bevor Joseph darum wusste, damit du um so eher glaubest, was nachher geschah. Gewiss, wäre sie schuldig gewesen, sie hätte es nicht bloß verdient, öffentlich der Schande preisgegeben zu werden, sondern hätte auch der gesetzlichen Strafe unterliegen müssen. Joseph aber ersparte ihr nicht nur diese schwerere, sondern auch die geringere Strafe, die Schande. Er wollte sie nicht nur nicht strafen, sondern sie nicht einmal bloßstellen. Siehst du, wie edel er ist und wie frei von der tyrannischsten aller Leidenschaften? Ihr wißt ja doch, was Eifersucht vermag. Deshalb sagte auch einer, der es wohl wusste: „Voll von Eifersucht ist der Zorn des Mannes, keine Schonung kennt er am Tag der Rache“12 , und: „Erbarmungslos wie die Hölle ist die Eifersucht“3 . Auch wir kennen viele, die lieber ihr Leben lassen, als den Verdacht eines eifersüchtigen Mannes wecken möchten. Hier handelte es sich aber nicht mehr um bloßen Verdacht, denn die fortgeschrittene Schwangerschaft war unverkennbar. Trotzdem war Joseph auch da so frei von aller Leidenschaft, dass er die Jungfrau auch nicht mit einem Gedanken betrüben wollte. Während nämlich auf der einen Seite die Schwangerschaft eine sündhafte zu sein schien, und andererseits die Sache bekannt geben und sie selbst vor Gericht ziehen soviel hieß, als sie dem Tode überliefern, so tut er keines von beiden, sondern handelt viel vollkommener, als das Gesetz es verlangte. Denn, da die Zeit der Gnade herannahte, so sollten sich auch die Beispiele solch hohen Lebensideals vervielfältigen. Wie nämlich die Sonne, auch wenn wir ihre Strahlen noch nicht sehen, doch schon von ferne durch ihr Licht den größten Teil der Welt erleuchtet, so hat auch Christus, als er bald aus dem Mutterschoß hervorgehen sollte, den ganzen Erdkreis erleuchtet, noch bevor er selbst sichtbar wurde. Deshalb haben schon vor seiner Geburt die Propheten vor Freude gejubelt, haben Frauen geweissagt, ist Johannes schon im Mutterschoße gehüpft, ehe S. 66er noch zur Welt gekommen war. Darum gibt uns auch Joseph ein so erhabenes Beispiel edler Gesinnung: er hat Maria nicht verklagt, hat sie nicht geschmäht, sondern gedachte nur, sie zu entlassen. In diesem Augenblick, als die Sache schon so stand und nirgends Rat war, da erschien der Engel und machte allen Zweifeln ein Ende. Es ist aber der Mühe wert zu untersuchen, weshalb der Engel nicht früher erschien, bevor dem Mann solche Gedanken gekommen waren, sondern erst dann, als er bereits solche Erwägungen anstellte? Es heißt nämlich:
V.20: „Während er solches bei sich erwog, kam der Engel“.
Der Jungfrau hatte er ja auch vor ihrer Empfängnis die Botschaft gebracht, und das gibt uns daher ein neues Rätsel auf. Wenn nämlich der Engel4 auch nichts offenbarte, warum hat aber die Jungfrau geschwiegen, nachdem sie die Botschaft des Engels empfangen hatte. warum hat sie die Zweifel nicht gelöst, als sie ihren Bräutigam in Sorgen sah? Warum also hat der Engel nicht eher gesprochen, bis Joseph unruhig geworden war? Wir müssen nämlich diese erste Frage zuerst lösen. Warum also hat er nicht gesprochen? Damit Joseph ihm nicht etwa den Glauben verweigerte, und es ihm nicht ebenso erginge, wie dem Zacharias. Denn nachdem er einmal das Geschehene selber gesehen, war es leicht, zu glauben. Vorher aber war es nicht ebenso leicht. Deshalb schwieg der Engel im Anfang, und auch die Jungfrau sagte aus dem gleichen Grunde nichts. Sie dachte eben, sie würde bei ihrem Bräutigam mit einer so merkwürdigen Geschichte keinen Glauben finden, sondern ihn nur noch erzürnen, durch den Versuch, ihre5 Sünde zu verbergen. Denn wenn schon sie, die einer solchen Gnade teilhaft werden sollte, menschlich dachte und fragte: „Wie kann dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“6 , um wieviel mehr hätte er Verdacht geschöpft, zumal da er S. 67es aus dem Munde eben des Weibes vernahm, auf das er den Verdacht hatte?