2.
In diesem Bewusstsein wollen wir also weder auf Kinder stolz sein, die Hervorragendes leisten, wenn wir selbst nicht ebenso tüchtig sind, wie sie, noch auch auf berühmte Väter, wenn wir ihnen an Tugend nicht gleichkommen. Es ist ja ganz gut möglich, dass derjenige, der Kinder hat, kein wahrer Vater ist, wohl aber einer, der keine hat. Als darum ein anderes Mal eine Frau sagte: "Selig der Leib, der Dich getragen, und die Brust, die Du gesogen hast"1 , da erwiderte er auch nicht: mich hat kein Leib getragen und ich habe keine Brust gesogen, sondern: "Selig vielmehr jene, die den Willen meines Vaters tun!"2 . Siehst du, wie er weder nach oben noch nach unten seine natürliche Abstammung verleugnet; nur fügt er noch den Adel der Tugend hinzu. Und als der Vorläufer ausrief: "Ihr Vipernbrut, prahlet nicht immer und sagt: Wir haben Abraham zum Vater"3 . da wollte er auch nicht sagen, sie seien nicht Kinder Abrahams der Natur nach, sondern nur, dass es sie gar nichts nütze, von Abraham abzustammen, wenn sie nicht auch zugleich den sittlichen Adel besäßen. Dasselbe hat uns Christus gelehrt mit den Worten: "Wenn ihr Kinder Abrahams wäret, so würdet ihr die Werke Abrahams tun"4 . Er wollte ihnen damit auch nicht ihren S. d633 Geburtsadel absprechen, sondern nur sie dazu anleiten, auch den höheren und vornehmeren Adel5 anzustreben. Dasselbe bezweckt Jesus auch hier; aber er tut es in sanfter und schonender Weise; es war ja seine Mutter, zu der er sprach. Darum sagte er nicht: das ist nicht meine Mutter, das sind nicht meine Brüder, weil sie nicht meinen Willen tun. Er hat weder eine Meinung geäußert, noch hat er sie verurteilt; dagegen ließ er ihnen noch die Möglichkeit offen, das Rechte zu wollen, indem er mit der gewohnten Sanftmut sprach:
V.50: "Wer den Willen meines Vaters tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter."
Wenn sie dies also sein wollten, so müssten sie auf diesem Wege kommen. Als jene Frau ausrief: "Selig der Leib, der Dich getragen hat", da erwiderte er nicht: Ich habe keine Mutter, sondern: Wenn sie selig sein will, dann tut sie den Willen meines Vaters. Denn wer so handelt, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter. O welche Ehre, o welche Tugend! Zu welcher Höhe führt sie den, der sie anstrebt! Wie viele Frauen haben diese Heilige Jungfrau und ihren Schoß selig gepriesen, und gebetet, dass auch sie solche Mütter werden möchten und alles andere dafür hingäben! Nun, was hindert sie daran? Siehe, der Herr hat uns einen breiten Weg geöffnet, und zwar können auf ihm nicht bloß Frauen, sondern auch Männer diese hohe Würde erlangen; ja eigentlich eine noch viel höhere. Denn Gottes Willen tun macht noch viel mehr zur Mutter6 , als jene Geburtswehen. Wenn also schon jene Mutterschaft selig zu preisen ist, dann noch viel mehr diese, die ja auch die Vorzüglichere ist. Trage also nicht bloß einfach Verlangen, gib auch gar sorgfältig acht auf den Weg, der dich zum Ziel deines Verlangens führt.
Nachdem also der Herr diese Antwort gegeben, trat er aus dem Hause. Siehst du da, wie er sie zwar zurecht wies, aber doch tat, was sie wollten? Geradeso handelte er auf jener Hochzeit7 . Auch dort tadelte er seine Mutter, die ihre Bitte zur Unzeit stellte; aber dennoch war er ihrem Wunsche nicht entgegen. S. d634 Durch das erstere hat er ihre Schwachheit gebessert, durch das zweite seine Liebe zu seiner Mutter bekundet. Geradeso heilte er auch hier zuerst den Fehler der Ruhmsucht, und erwies dann der Mutter die gebührende Ehre, obgleich sie eine unzeitige Bitte vorgebracht hatte.
Kap. XIII. V.1: "Denn an jenem, Tage", heißt es weiter, "trat der Herr aus dem Haus und setzte sich an das Ufer des Sees."
Wenn ihr, so sagt er gleichsam, sehen und hören wollt, wohlan, ich komme heraus und rede mit euch. Da er nämlich vorher viele Zeichen gewirkt, bietet er ihnen jetzt wieder Gelegenheit, aus seiner Lehre Nutzen zu ziehen. Und er setzte sich an den See, um diejenigen zu fischen und nach denen die Netze auszuwerfen, die auf dem Lande saßen. Doch setzt er sich nicht ohne bestimmte Absicht an den See. Gerade darauf spielt auch der Evangelist an. Er wollte nämlich zeigen, dass der Herr dies in der Absicht getan hat, den Schauplatz genau auszuwählen, und zwar so, dass er niemand in seinem Rücken ließe, sondern alle vor sich habe. Darum sagt er:
V.2: "Und es versammelten sich große Scharen um ihn, so dass er ein Schiff besteigen musste, in dem er sich niedersetzte; und das ganze Volk stand am Ufer." Nachdem er aber darin Platz genommen, sprach er zu ihnen in Gleichnissen.
V.3: "Und", heißt es, "er sprach zu ihnen vieles in Parabeln." Auf dem Berge hat er es allerdings nicht so gemacht, und hat nicht so viele Gleichnisse in seine Rede eingewoben. Damals hatte er eben nur gewöhnliche Leute vor sich und ungebildetes Volk; hier waren aber auch Schriftgelehrte und Pharisäer zugegen. Da beachte auch, welches Gleichnis der Herr zuerst vorbringt, und wie Matthäus sie ganz in ihrer richtigen Reihenfolge aufzählt. Welches Gleichnis bringt er also zuerst? Dasjenige, das er zuerst bringen musste, um die S. d635 Aufmerksamkeit des Zuhörers zu wecken. Da er nämlich nicht klar und deutlich zu ihnen reden wollte, so regte er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zuerst durch ein Gleichnis an. Darum berichtet auch ein anderer Evangelist, er habe ihnen vorgeworfen, dass sie ihn nicht verständen und habe gesagt: "Wie? Ihr habt das Gleichnis nicht verstanden?"8 . Allein nicht bloß deshalb redete er in Gleichnissen, sondern auch, um seiner Rede noch mehr Nachdruck zu verleihen, sie besser dem Gedächtnisse einzuprägen und die Dinge recht anschaulich zu machen. So haben auch die Propheten getan.