1.
V.10: „Da gingen die Jünger zu ihm hin und sagten: Warum redest Du in Gleichnissen zu ihnen?"
V.11: "Er aber antwortete ihnen und sprach: Weil es euch gegeben ist, die Geheimnisse des Himmelreiches zu erkennen, jenen aber nicht."
Hier dürfen wir die Jünger wohl bewundern, weil sie nicht bloß sehnsüchtig nach Belehrung verlangten, sondern auch wussten, wann es Zeit sei, Fragen zu stellen; denn sie tun es nicht1 vor allem Volke. Das gibt uns ja Matthäus zu verstehen durch die Worte: “Da gingen sie hinzu". Dass es aber keine bloße Vermutung ist, was ich sage, ergibt sich daraus, dass Markus dasselbe noch deutlicher behauptet und sagt, sie seien einzeln zu ihm hingegangen2 . So hätten es auch seine Brüder und seine Mutter machen sollen, und nicht ihn hinausrufen, um sich zu zeigen3 . Da beachte auch die Nächstenliebe der Apostel, wie sehr ihnen das Wohl der anderen am Herzen liegt und wie sie zuerst an sie denken und dann erst an sich. “Weshalb", fragen sie, “sprichst Du zu ihnen in Gleichnissen?" Sie sagten nicht: Warum redest Du mit uns in Gleichnissen? Auch sonst zeigen sie sich häufig voll Liebe gegen alle; so zum Beispiel, wo sie sagen: “Entlass die Menge"4 , und: "Weißt Du, dass sie Ärgernis genommen haben?“5 .
S. d645 Wie lautet nun die Antwort Christi? „Weil es euch gegeben ist, die Geheimnisse des Himmelreiches zu erkennen; jenen aber nicht.“ Mit diesen Worten wollte er zu verstehen geben, dass die Ursache solcher Unkenntnis nicht auf einer Notwendigkeit oder irgendeiner blinden Fügung des Schicksals beruhe, sondern dass sie selbst die Schuld an allem Unheil trügen; auch wollte er betonen, dass diese Erkenntnis ein freies Geschenk sei, und eine Gnade, die von oben kam. Wenn sie aber auch ein freies Geschenk ist, so ist die persönliche Mitwirkung deshalb nicht ausgeschlossen. Das geht aus dem Folgenden hervor. Wenn sie nämlich hörten, dass es ihnen6 „gegeben“ sei, so sollten die einen nicht mutlos, die anderen nicht übermütig werden; darum siehe, wie er ihnen zeigt, dass wir den Anfang machen müssen.
V.12: „Denn jedem, der etwas hat, wird noch dazu gegeben werden, und jedem, der nichts hat, wird auch das genommen, was er zu haben glaubt.“
Diese Worte sind ungemein dunkel, und doch legen sie Zeugnis ab von unaussprechlicher Gerechtigkleit. Ihr Sinn ist der: Wenn jemand bereitwillig und eifrig ist, so wird ihm Gott auch seinerseits alles geben, was an ihm liegt; wenn er es aber nicht ist, so wird weder er selbst tun, was er sollte, noch wird Gott ihm geben, was von ihm abhängt. „Denn“, heißt es, „was er zu haben glaubt, wird ihm genommen werden“, nicht etwa so, dass Gott es ihm nimmt, sondern indem er ihn überhaupt seiner Gaben nicht würdigt.
Auch wir pflegen es ja so zu machen: Wenn wir sehen, dass jemand nur lässig zuhört und trotz unserer wiederholten Bitten nicht achtgeben will, so schweigen wir eben. Wollten wir darauf bestehen, weiter zu reden, so würde seine Unachtsamkeit nur noch zunehmen. Ist dagegen jemand begierig nach Unterweisung, so
ziehen wir ihn an uns und geben ihm viele Belehrung. Ganz richtig gebraucht auch der Herr den Ausdruck: „Auch das, was er zu haben glaubt“; denn tatsächlich hat er ja gerade das nicht.
S. d646 Diese Worte erklärt er dann noch des weiteren und zeigt uns ihren wirklichen Sinn: „Dem, der hat, wird gegeben werden; von dem aber, der nichts hat, wird auch das genommen werden, was er zu haben glaubt.“
V.13: „Deshalb“, sagt er weitert, „rede ich in Gleichnissen zu ihnen, weil sie sehen und doch nicht sehen.“
Dann hätte er ihnen eben, wendet man ein, die Augen öffnen sollen, wenn sie nichts sehen. Ja, wenn es sich um leibliche Blindheit gehandelt hätte, dann hätte er ihnen die Augen öffnen müssen; weil aber ihre Blindheit freiwillig und selbstgewollt war, deshalb sagte der göttliche Heiland nicht einfachhin: sie sehen nicht, sondern: „Sie sehen und sehen doch nicht.“ An ihrer Blindheit war also nur ihre eigene Schlechtigkeit schuld. Sie hatten ja gesehen, wie Dämonen ausgetrieben wurden, und sagten noch: „Im Beelzebub, dem obersten der Dämonen, treibt er die Teufel aus“7 . Sie hörten, wie er sie zu Gott führen wollte, und wie er seine vollkommene Übereinstimmung mit Gott bekundete, und sagten: „der ist nicht von Gott“8 . Da sie also das Gegenteil von dem behaupteten, was sie sahen und hörten, deshalb, meint der Herr, nehme ich ihnen auch die Fähigkeit zu hören. Damit ziehen sie sich nur ein noch schärferes Gericht zu. Denn sie haben nicht nur nicht geglaubt, sie haben den Herrn sogar beschimpft, getadelt und ihm Nachstellungen bereitet. Gleichwohl hält ihnen der Herr dies alles nicht vor; er will eben kein harter Ankläger sein.
Im Anfange redete er also nicht so rätselhaft mit ihnen, sondern ganz klar und deutlich. Da sie sich aber selbst von ihm abwandten, so spricht er hinfort in Gleichnissen zu ihnen. Damit sodann niemand glaube, seine Worte enthalten eine unbegründete Anklage, und damit sie nicht sagten: er klagt uns an und verleumdet uns, weil er unser Feind ist, deshalb zitiert er den Propheten, der dasselbe sagte, wie er.
V.14: „Denn“ sagt er, „an ihnen wird die Prophetie des Jesaias in Erfüllung gehen, die da lautet: Mit euren Ohren S. d647 werdet ihr hören und nicht verstehen, sehend werdet ihr schauen und doch nicht sehen“9 .
Siehst du da, mit welcher Bestimmtheit auch der Prophet dieselbe Klage erhebt? Er sagte ja nicht: Ihr schauet nicht, sondern: „Ihr werdet schauen und doch nicht sehen“; ebenso heißt es nicht: Ihr werdet nicht hören, sondern: „Ihr werdet hören und nicht verstehen.“ Sie waren es also, die sich selber zuerst lostrennten, indem sie sich die Ohren verstopften, die Augen verhüllten, das Herz verhärteten. Denn sie hörten ja nicht nur nicht, sondern
V.15: „Sie hörten es mit Ingrimm“;
und so taten sie, sagt der Herr weiter, „damit sie sich nicht etwa bekehrten und ich sie heile“, womit er auf ihre verhärtete Bosheit hinweist und ihre geflissentliche Abkehr von ihm.