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Was ist aber das Wesentliche in unserem Leben? Etwa Wundertaten oder ein recht gewissenhaftes Tugendstreben? Doch offenbar das letztere. Die Wunder haben sogar erst hierin ihr eigentliches Ziel und Ende. Wer ein ganz vollkommenes Leben führt, der erwirbt sich auch diese Gnade; wer aber diese Gnade empfängt, S. d662 erhält sie deshalb, damit er den Lebenswandel anderer dadurch bessere.Auch Christus hat ja nur zu dem Zweck Wunder gewirkt, damit er selbst dadurch glaubwürdig erscheine, die Menschen so an sich zöge und sie zu einem tugendhaften Leben anhielte. Deshalb liegt ihm auch dies ganz besonders am Herzen. Darum begnügt er sich auch nicht mit Wunderzeichen, sondern droht sogar mit der Hölle, verheißt das Himmelreich, verkündet jene wunderbaren Gebote und tut alles, was er kann, nur um sie1 den Engeln gleich zu machen. Und was sage ich, dass nur Christus alles deswegen getan? Wenn dir selbst jemand die Wahl ließe, in seinem Namen Tote aufzuerwecken, oder um seines Namens willen zu sterben, was würdest du lieber wählen? Doch offenbar das Zweite? Und doch ist das eine ein Wunder, das andere ein gutes Werk. Oder wenn dir jemand die Macht anböte, Heu in Gold zu verwandeln, oder die Kraft, allen Reichtum wie Heu zu verachten, würdest du nicht lieber das letztere wählen? Und auch ganz mit Recht. Denn gerade das würde auch die Menschen am meisten anziehen. Würden sie sehen, wie Heu in Gold verwandelt wird, so möchten wohl auch sie selber solche Macht besitzen, wie Simon2 ,und ihre Sucht nach Reichtum würde dadurch noch gesteigert. Wenn sie dagegen sähen, wie alle das Gold gleich Heu geringschätzen und verachten, so wären sie längst von dieser Krankheit geheilt.
Siehst du also, dass ein gutes Leben viel nützlicher sein kann? Unter einem guten Leben verstehe ich aber jetzt nicht, dass du fastest, dass du in Sack und Asche Buße tust, sondern dass du den Reichtum in der richtigen Weise gering achtest, dass du Nächstenliebe zeigest, dein Brot mit den Hungernden teilst, den Zorn beherrschest, den Ehrgeiz verbannst, Neid und Eifersucht3 entfernst. So hat es uns ja auch der Herr gelehrt. „Lernet von mir“, sagt er, „denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen“4 . Er sagte nicht: denn ich habe gefastet, obwohl er sein vierzigtägiges Fasten hätte erwähnen können; aber er tut es nicht, sondern S. d663 sagt: „Denn ich bin sanfmütig und demütig von Herzen“. Und als er die Jünger aussandte, befahl er ihnen auch nicht zu fasten, sondern sagte: „Alles, was man euch vorsetzt, esset“5 . Hinsichtlich irdischer Güter verlangte er dagegen große Strenge und sagte: „Verschafft euch weder Gold noch Silber, noch Erz für eure Gürtel“6 .
Das alles sage ich nicht, um das Fasten herabzusetzen; vielmehr empfehle ich es aufs wärmste. Nur schmerzt es mich, wenn ihr die anderen Tugenden vernachlässigt und glaubt, diese allein genüge zu eurem Seelenheil, obgleich sie die geringste im Reigen der Tugenden ist. Die höchsten unter ihnen sind die Liebe, die Sanftmut, die Mildtätigkeit, die sogar die Jungfräulichkeit überwiegen. Willst du also den Aposteln gleich sein, so hindert dich gar nichts daran. Wer diese Tugend anstrebt, dem genügt es, dass er nicht hinter ihnen zurücksteht. Warte also nicht erst auf Wunder. Den Teufel schmerzt es, wenn er aus einem Leibe ausgetrieben wird; aber noch viel mehr schmerzt es ihn, wenn er eine Seele sieht, die sich von der Sünde befreit hat. Die Sünde ist ja des Teufels große Macht. Ihretwegen ist ja Christus gestorben, um sie zu vernichten. Denn sie hat den Tod7 gebracht, ihretwegen ist alles in Unordnung geraten. Wenn du also die Sünde beseitigt hast, so hast du dem Teufel die Sehnen durchschnitten, hast sein Haupt zerschmettert, seine ganze Macht gebrochen, sein Heer in die Flucht geschlagen, und ein Wunder gewirkt, das größer ist als alle anderen Wunder.
So rede nicht etwa bloß ich, so redet der hl. Paulus. Als er gesagt hatte: „Strebet nach den höchsten Charismen, und ich will euch noch einen höheren Weg zeigen“8 , da nannte er nicht die Wunderkraft, sondern die Liebe, die Wurzel alles Guten. Wenn wir also die Liebe betätigen, und das ganze Tugendleben, das aus ihr entspringt, so haben wir keinerlei Wunder nötig, wie S. d664 aber auch anderseits die Wunder uns nichts nützen, wenn wir die Liebe nicht üben.
Das alles wollen wir uns also zu Herzen nehmen und nach dem streben, was die Apostel eigentlich groß gemacht hat. Was hat sie aber groß gemacht? Vernimm die Worte des hl. Petrus: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt; welches wird also unser Lohn sein?“ Höre auch, welche Antwort Christus ihm gibt: „Ihr werdet auf zwölf Thronen sitzen“, und: „Jeder, der sein Haus, seine Brüder, seinen Vater oder seine Mutter verlässt, wird hundertfältigen Lohn in dieser Welt erhalten und wird das ewige Leben zum Erbteil erlangen“9 .
Sagen wir uns also los von allen irdischen Dingen; geben wir uns Christo hin, damit wir nach seinem Ausspruch den Aposteln gleich werden, und noch dazu das ewige Leben erlangen, dessen wir alle teilhaft werden mögen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Macht sei in alle Ewigkeit. Amen!